: Raus ohne Applaus
Nach 20 Jahren geht der Bundeswehreinsatz in Afghanistan zu Ende. Welche Zukunft dem Land nach dem Abzug der westlichen Truppen blüht, ist unklar
Aus New York und Berlin Dorothea Hahn und Tobias Schulze
Kurz vor 14 Uhr war der Einsatz am Mittwoch dann wirklich vorbei. Auf dem Militärflugplatz Wunstorf bei Hannover landeten drei Transportflugzeuge. An Bord waren die letzten 264 SoldatInnen, die die Bundeswehr noch in Afghanistan stationiert hatte. Ohne große Zeremonie endete damit nach fast zwei Jahrzehnten der verlustreichste Militäreinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik.
Schon am Dienstagabend hatten die SoldatInnen aus Masar-i-Scharif im Norden Afghanistans abgehoben, auf dem Weg nach Deutschland legten sie einen Zwischenstopp in Georgiens Hauptstadt Tiflis ein. Das Verteidigungsministerium verkündete den Abflug in einer knappen Mitteilung. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) schrieb auf Twitter, bei ihrem „intensivsten Auslandseinsatz“ hätten die deutschen SoldatInnen „alle Aufträge erfüllt, die ihnen der Bundestag gegeben hat. Sie können stolz auf diesen Einsatz sein“.
Dabei ist die tatsächliche Erfolgsbilanz der zwanzig Jahre in Afghanistan zumindest umstritten. „Die Nato hat diesen Krieg verloren, auch das Konzept des ‚Nation Building‘ ist gescheitert, die Taliban erobern immer mehr Gebiete zurück“, sagte die Linken-Abgeordnete Heike Hänsel am Mittwoch. Ihre Fraktion fordert, dass der Bundestag eine unabhängige Kommission einsetzt, um die deutsche Kriegsbeteiligung zu evaluieren.
Mit der Forderung nach einer Auswertung ist die Linke nicht allein, offen scheint im Moment nur die Form. Kramp-Karrenbauer kündigte zuletzt im Bundestag eine Veranstaltung zur Evaluation im Verteidigungsministerium an. Grüne und FDP fordern dagegen wie die Linke eine unabhängige Auswertung. Die Bundestags-Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) schloss sich dem am Mittwoch an und schlug eine Enquetekommission des Parlaments vor.
Ein solches Gremium hätte sicherlich auch die Frage zu klären, ob der Abzug am Ende nicht etwas überstürzt vonstattenging. Zum Gedränge bei der Abreise war es gekommen, nachdem Washington seinen Truppenabzug beschleunigt hatte. Im April hatte US-Präsident Joe Biden angekündigt, die letzten amerikanischen Truppen würden das Land am 11. September verlassen – auf den Tag genau zwei Jahrzehnte nach den Attentaten in New York und Washington. Nach gegenwärtigen Planungen werden die meisten US-SoldatInnen das Land aber sogar schon zum 4. Juli, dem Nationalfeiertag der USA, verlassen haben. Die Bundesregierung schloss sich den Planungen aus Washington notgedrungen an und machte ebenfalls Tempo.
Militärische Verantwortliche der USA hatten noch vor einem kompletten Truppenabzug gewarnt. Aber kaum hatte der Präsident gesprochen, drängte die Spitze des Pentagon zur Eile. Gleichzeitig eskalierten die Taliban ihre Kampfhandlungen in Afghanistan. Seit Anfang Mai eroberten sie Dutzende von Bezirken im Land.
7.119 Tage war die Bundeswehr seit dem Beginn des ersten Nato-Einsatzes Anfang 2002 in Afghanistan präsent.
160.000 deutsche Soldat*innen wurden insgesamt dort eingesetzt, in der Regel für je vier bis sechs Monate.
59 Soldaten kamen ums Leben, davon 35 durch Fremdeinwirkung. Von einem Krieg wollte die Bundesregierung trotzdem lange nicht sprechen.
12 Milliarden Euro hat der Einsatz von 2001 bis 2020 gekostet („einsatzbedingte Zusatzausgaben“), teilte das Auswärtige Amt im April dieses Jahres mit.
Bis zu 142 Menschen sind 2009 beim fatalen Luftangriff auf zwei Tanklaster bei Kundus, den die Bundeswehr angefordert hatte, gestorben. (dpa, taz)
Biden hat dem afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani auch für die Zukunft militärischen Beistand im Kampf gegen den Terrorismus zugesagt. Wie das logistisch funktionieren soll, ist aber offen. Die nördlichen Anrainerstaaten Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan sind Nachbarn Russlands und ehemalige Sowjetrepubliken. Sie zeigen keine Neigung, größere US-Truppenkontingente aufzunehmen. Pakistan, Afghanistans Nachbar im Süden, pflegt enge Beziehungen zu den Taliban. Die nächsten US-Basen im Golf und auf Flugzeugträgern sind weit.
Unklar ist auch die Situation von Zigtausenden von AfghanInnen, die in den letzten Jahren für die ausländischen Truppen oder andere ausländische Organisationen gearbeitet haben. Viele dieser Ortskräfte fürchten jetzt die Rache der Taliban.
Kramp-Karrenbauer sagte am Dienstag in New York erneut zu, dass AfghanInnen, die seit 2013 für die Bundeswehr gearbeitet haben, sowie ihre Angehörigen nach Deutschland kommen könnten. Dazu reichten der Nachweis der Tätigkeit für die Bundeswehr sowie die Erklärung, dass sie bedroht seien. Die Ministerin schätzt, dass rund 5.000 Personen nach Deutschland kommen könnten. Tatsächlich hatte die Bundesregierung nach entsprechenden Protesten zuletzt die Aufnahmekriterien gelockert. An der praktischen Situation hat sich für viele der Betroffene offenbar trotzdem nichts geändert.
„Beschämend“ nennt der Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour den Umgang der Bundesregierung mit ihnen. „Dass trotz einer gemischten Bilanz des Afghanistan-Einsatzes einiges erreicht wurde, verdanken wir den Afghan*innen, die uns als Ortskräfte unendlich engagiert unterstützt haben. Das verdient Anerkennung.“
Eine breite Unterstützer-Initiative, der sowohl Pro-Asyl-Aktivisten als auch Bundeswehrgeneräle angehören, hatte zuletzt gefordert, dass die Bundeswehr beim Abzug auch die Ortskräfte nach Deutschland ausfliegt. Das ist nicht geschehen. Wer eine Aufnahmezusage hat, muss sich nun auf eigene Faust zum Flughafen Kabul durchschlagen und sich dort ein eigenes Flugticket kaufen. Vollkommen unklar ist, an wen sich ehemalige MitarbeiterInnen wenden sollen, die ihre Einreise nach Deutschland noch gar nicht beantragen konnten. Die Bundeswehr als Ansprechpartner ist nicht mehr vor Ort, die Visastelle der Deutschen Botschaft ist geschlossen.
Omid Nouripour (Grüne)
Offen ist schließlich auch, ob der Flughafen von Kabul auf lange Sicht sicher bleibt. Er wird aktuell noch von türkischen Soldaten geschützt. Sowohl die afghanische Regierung als auch Ankara wollen daran festhalten. Aber die Taliban verlangen, dass auch das Nato-Land Türkei seine Truppen abzieht.
Vor Antworten auf die Frage: „Was haben die 20 Jahre Krieg gebracht?“ drücken sich die politisch Verantwortlichen. US-General Austin Scott Miller verwies dazu bei einem Pressegespräch, das TeilnehmerInnen wie ein Abschied von Kabul vorkam, auf die Geschichtsbücher.
Und in New York spricht Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer bei ihrem Treffen mit UN-Generalsekretär António Guterres nicht nur über Afghanistan nach dem Nato-Abzug, sondern auch über Mali. Dort waren am vergangenen Freitag zwölf BundeswehrsoldatInnen bei einem Anschlag verletzt worden. Nach dem Abzug aus Afghanistan ist die Mali-Mission jetzt die größte der Bundeswehr – und die gefährlichste.
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