piwik no script img

Geflüchtete über ihr Einser-Abitur„Ich will mittendrin sein“

Delovan M. kam am ersten Schultag in Berlin etwas zu spät und machte nun ein Einser-Abitur. Die 19-Jährige flüchtete vor sieben Jahren aus Syrien.

Deutsch lernen in einer Willkommensklasse in Berlin 2016 Foto: dpa
Interview von Svenja Jäger

taz: Frau M.*, welche Erinnerung haben Sie an Ihren ersten Schultag in der Regelklasse?

Julian Daibler
Im Interview: Delovan M.

Die heute 19-Jährige ist vor sieben Jahren aus Syrien nach Deutschland gekommen. Sie war zunächst für zwei Monate in einer Willkommensklasse, wechselte dann für ein Jahr in eine reguläre Schulklasse und danach an ein Gymnasium im Osten Berlins. Diese Woche hat sie ihr Abiturzeugnis überreicht bekommen: Als Einzige aus ihrem Jahrgang hat sie den Notendurchschnitt 1,0.

Delovan M.: Ich kam ein bisschen zu spät, alle saßen schon an ihren Plätzen. Mir wurde ein einzelner Platz in der Ecke gegeben. Und ich dachte mir, ich darf mich hier nicht fremd fühlen. Ich wollte nicht in die Ecke gedrängt sein. Also habe ich die Lehrerin gefragt, ob ich in der Mitte der Klasse sitzen darf. Und das hat dann auch geklappt. Das bedeutete für mich: Ich will mittendrin sein und nicht am Rand.

Sie waren nur für zwei Monate in einer Willkommensklasse für geflüchtete Schü­le­r*in­nen und dann in einer regulären Schulklasse. Wie haben Sie so schnell Deutsch gelernt?

Anfangs habe ich so Basic-Sachen gelernt in der Willkommensklasse. Das Erste, was ich gelernt habe, war „aufs Klo gehen“: Darf ich ins Klo gehen? Nein, aufs Klo. Ich denke, meine Bereitschaft, Deutsch zu lernen, war einfach hoch, und meine Eltern waren auch Vorbilder. Sie haben Sprachkurse gemacht und Prüfungen abgelegt. Ich wollte nicht diejenige sein, die ständig benachteiligt ist. Deshalb hatte ich die Motivation, schnell zu lernen und nicht aufzugeben.

Wer hat Sie noch bestärkt?

Ich denke, es hat eine Rolle gespielt, was für Leh­re­r:in­nen wir hatten. Ich hatte eine Lehrerin, die mich besonders unterstützt hat, mich auch gefördert und wirklich an mich geglaubt hat. Sie hat mir gesagt: Du schaffst das, du schaffst das locker. Sie hat auch gesehen, dass meine Sprache sich ständig verbessert hat. Ich denke, das war ein ausschlaggebender Punkt

Ist Ihren Geschwistern das Lernen auch so leicht gefallen?

Ich habe zwei Brüder, und die hatten es schwerer als ich. Weil der eine noch im Kindergarten war, wo es erst mal nur ums Spielen ging, und der andere direkt in eine reguläre Klasse gekommen ist, weil er hier eingeschult wurde. In der Willkommensklasse wurde nicht erwartet, dass du direkt Deutsch sprichst. Bei meinem Bruder in der Klasse schon.

Ab in die Ferien!

Sommerschulen, Intensivkurse zum Schwimmenlernen, Wochenendschulen: Die Sommerferien stehen dieses Jahr nicht unbedingt nur im Zeichen der Erholung. Insgesamt 64 Millionen Euro investieren Bund und das Land Berlin in ein sogenanntes Aufholprogramm nach 1,5 Schuljahren Pandemie. „Wir haben viel Arbeit vor uns, es gibt in allen Bereichen viel aufzuholen“, hatte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) bei der Vorstellung des Programms Anfang Juni gesagt.

Der Löwenanteil von 44 Millionen Euro geht in den Abbau von Lernrückständen. Die Schulen bekommen ein Budget für Lernerhebungen, mittels derer sie dann möglichst gezielt fördern sollen: mit Lerncoaching, Mentoring, „digitalen Tools“. Auch Wochenendschulen können angeboten werden. Die Sommerschulen richten sich vor allem an die Jahrgangsstufen 7–9 sowie die jüngeren Grundschulklassen.

3 Millionen Euro gehen in das Programm „Jugendarbeit stärken“, 9 Millionen Euro gehen in die Sozialarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Hinzu kommen rund 8 Millionen Euro, mit denen die Kitas „Frühkindliche Bildung“ fördern sollen – Grundschullehrkräfte hatten im vergangenen Schuljahr Alarm geschlagen, weil die zeitweise geschlossenen Kitas Auswirkungen hatten etwa auf die Feinmotorik (Stift halten) und die Sprachkompetenz der ErstklässlerInnen.

Am Mittwoch ist der letzte Schultag, erster Schultag nach den Ferien ist der 9. August. Wer Sorgen hat wegen seines Zeugnisses (oder wegen der Reaktion der Eltern auf selbiges), kann sich heute in der Zeit von 10–13 Uhr an die Sorgentelefone der Bildungsverwaltung wenden: https://www.berlin.de/sen/bjf/. (akl)

Lernen Sie selbst Sprachen generell schnell? Wie viele Sprachen sprechen Sie noch?

Ich spreche Kurdisch und Arabisch. Englisch und Italienisch hatte ich dann in der Schule. Ich habe außerdem mein kleines Latinum gemacht.

Was hat Ihnen geholfen, so fokussiert zu sein?

Es war, seit ich in Deutschland bin, immer mein Ziel, mein Abitur richtig gut zu machen. Ich dachte mir: Ich will Erfolg haben. Das Beste wollte ich aus mir herausholen. Ich habe es als Chance gesehen, mich anzustrengen. So habe ich nach zwei Monaten Willkommensklasse und einem Jahr regulärer Klasse die gymnasiale Empfehlung bekommen, mich fürs Gymnasium beworben und wurde angenommen. Ich denke, das war auch ein guter Schritt.

Hatten Sie dann überhaupt noch viel Freizeit?

Die Oberstufe ist mir sehr leicht gefallen. Ich habe mich in der Schule immer sehr darauf konzentriert, effizient zu lernen, weil ich außerhalb andere Sachen lieber gemacht habe. Ich war beim Deutschen Roten Kreuz engagiert, habe Tennis gespielt und Geige gelernt und hatte in meiner Oberstufenzeit einen Nebenjob.

Hatten Sie keine Unsicherheiten oder Ängste?

Ich hatte Angst, dass ich immer dieses Fremdheitsgefühl haben würde. Ich musste mich halt auf neue Sachen einstellen. Ich sagte mir immer: Es wird geschehen, wie es geschehen wird, es bringt jetzt im Moment nichts, ständig darüber nachzudenken. Lass es einfach passieren und mache das Beste daraus. Und jetzt ist es auch eine Erleichterung.

Jetzt haben Sie Ihr Abi geschafft und können wegen Corona nicht richtig feiern!

Der Abiball ist wegen Corona ausgefallen. Ich bin aber nicht traurig darüber. Es wäre ein cooler Abend gewesen, aber die Kleider wären teuer geworden. Wir haben eine feierliche Zeugnisausgabe, da darf aber nur eine weitere Person mit. Ich denke, wir müssen noch mal ein bisschen mit meinen Eltern feiern, in einem kleinen Rahmen.

Wie fanden Sie diesen ersten Lebensabschnitt in Deutschland bis hierher?

Ich bin sehr stolz auf mich. Ich glaube, ich habe mich gut geschlagen und mich weiterentwickelt. Ich bin ein Mensch geworden, der Ziele hat.

Ich sagte mir: Hey, auch wenn ich in Deutschland geboren worden wäre, könnten mir Fehler passieren

Woran merken Sie, dass Sie sich weiterentwickelt haben?

In der Schule zum Beispiel wusste ich, dass ich Sprachfehler mache beim Vortrag. Ich habe mich nicht von den Blicken verwirren lassen, sondern gesagt: Hey, auch wenn ich in Deutschland geboren worden wäre, könnten mir Fehler passieren.

Sie haben sich an uns gewendet, weil Sie Ihre Geschichte gerne erzählen wollten: Warum?

Ich wollte meine Geschichte teilen, weil auch andere in meiner Situation sind. Auch wenn jeder eigene, andere Probleme hat, muss man immer zu sich stehen, sodass deine Schwächen zu dem werden, wofür dich andere respektieren. So habe ich als Einzige von etwa 95 Schü­le­r*in­nen in meiner Oberstufe einen 1,0er-Schnitt abgelegt.

Wie geht’s jetzt bei Ihnen weiter?

Ich weiß noch nicht genau, was ich studieren will. Tatsächlich gehen meine Interessen in unterschiedliche Richtungen: einmal Naturwissenschaften und die andere Richtung ist das Gesellschaftliche. Vielleicht Jura oder Internationales Recht. Wenn ich mein Zeugnis bekommen habe, fange ich an, mich zu bewerben.

* Um sich und ihre Familie zu schützen, möchte Frau M. nicht ihren vollen Nachnamen veröffentlichen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Danke für das Interview! Alles Gute für Delovan M.!