Jazzalbum „Metaphysics“ wiederentdeckt: Sturm und Drang mit jeder Kralle
Hasaan Ibn Ali war ein grandioser Pianist und schwieriger US-Jazzkünstler. Nun ist sein lange verschollenes Album „Metaphysics“ wieder aufgetaucht.
Was ist denn hier los? Selten so unwiderstehliches Powerplay gehört und, selbst in den ruhigeren Passagen, eine derart verschwenderische Intensität. Mit dieser Musik müssten sich eigentlich alle zum Jazz bekehren lassen. Eine gestochen scharfe Schwarz-Weiß-Rückblende in seine klassische Sturm- und Drangphase, in die Hochblüte des Hardbop, aufgenommen an zwei Tagen im Sommer 1965. Und wer spielt? Vor allem: Wer spielt hier Klavier?
Beinahe hätten wir das nie erfahren, denn die Originalbänder des Albums „Metaphysics“ galten als verschollen und waren mutmaßlich einem Brand im Archiv des US-Labels Atlantic zum Opfer gefallen. Der Krimi um das Auftauchen einer sagenumwobenen Kopie, um ihre Restaurierung und die sorgfältige Neuedition ist fast zu hübsch, um wahr geworden zu sein.
Dazu kommt noch die Aura der Hauptperson, des afroamerikanischen Pianisten nämlich, der auf dem Grat zwischen Genie und Wahnsinn volles Risiko einging, und das nicht nur am Klavier. Es ist wirklich alles angerichtet für die große Legendenbildung.
„Metaphysics. The Lost Atlantic Album“, jetzt nach einer halben Ewigkeit erstmals veröffentlicht, ist tatsächlich eine Sensation. Und der Mann, der sie auf dem Kerbholz hat, eine so gut wie unerhörte Entdeckung.
Sein Fürsprecher Max Roach
Denn von Hasaan Ibn Ali (als William Henry Lankford 1931 geboren) gab es bisher nur ein einziges Werk: „The Max Roach Trio Featuring The Legendary Hasaan“. Jazzdrummer Roach war damals einer seiner prominenten Fürsprecher gewesen und hatte ihn 1964 Musikmogul Nesuhi Ertegun für Atlantic Records empfohlen. Da Ali direkt nach den „Metaphysics“-Aufnahmen wegen Drogenbesitz in Haft kam und somit für die Promotion ausfiel, ließ Atlantic die Bänder in der Versenkung verschwinden – der ultimative Karriereknick für den Pianisten, der in der Folge nie mehr richtig Tritt in der Jazzszene fassen sollte.
Hasaan Ibn Ali: “Metaphysics: The lost Atlantic Album“ (Omnivore/Import)
In den Clubs seiner Heimatstadt Philadelphia war er schon zuvor musikalisch unter- und sozial überfordert gewesen und fiel nun wieder in seine eigenbrötlerische Stubenhocker-Existenz zurück. Dann und wann kamen Kollegen zum Jammen vorbei, zunächst John Coltrane, später McCoy Tyner, am häufigsten aber Odean Pope. Und dieser kolossale, hierzulande kaum bekannte Tenorsaxofonist ist, neben Art Davis (Bass) und Kalil Madi (Drums), auf „Metaphysics“ dabei. Seine traumwandlerische Engführung mit Alis Klavier ist die Frucht einer zehnjährigen gegenseitigen Vertrautheit.
Das Quartett spielt ausnahmslos Eigenkompositionen des Leaders, das Titelstück paraphrasiert Charlie Parkers „Confirmation“. Hasaan Ibn Alis pianistische Traditionslinie verläuft von Count Basie zu Elmo Hope, womit Bud Powell und Thelonious Monk ebenfalls in Reichweite sind. Wie sie geht auch Ali unerschrocken in die Abstraktion, stellt vertrackte Rätsel in den freien Raum und entwickelt nachvollziehbare Lösungen.
Technisch nie am Limit
Immer wird dabei eine Geschichte erzählt, und technisch scheint dieser Mann nie ans Limit gehen zu müssen. Er bietet alle erdenklichen Anschlagtechniken auf, ob erlaubt oder verboten, setzt die Boogie-Woogie-Pranke ein, wetzt jede Kralle, rast über die Tastatur oder klimpert sich einfach nur was. Welch unermesslicher Klangkörper ein Klaviermöbel doch sein kann.
Auch ein Rahsaan Roland Kirk, ein Philly Joe Jones und weitere Jazz-Koryphäen bewunderten Ali, dem sperrigen Charakter zum Trotz, für seine wagemutige Originalität und setzten sich für ihn ein. Es half nichts. 1981 ist Hasaan Ibn Ali nach dem Wenigen, was überliefert ist, völlig vereinsamt gestorben. „Metaphysics“ war seine unüberbietbare Sternstunde und glitzert auch heute noch wie am ersten Tag. Kein Findling, vor dem man ehrfürchtig erstarrt, sondern ein Lebenszeichen für immer, dank der Wiederveröffentlichung durch das US-Indielabel Omnivore.
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