Jazzlegende Charles Mingus im Konzert: War der liebe Gott ein Boogeyman?
Ein Boxset mit Konzertaufnahmen aus Bremen zeigt die Finesse des US-Jazzbassisten Charles Mingus. Und, dass Heiliger Zorn Berge versetzen kann.
Ein wildes Intro vom Kontrabass, dann eine krumme Fanfare der Bläsersektion, zweimal wiederholt und von Klavier und Drums gestützt, bis sich das zickige Bebop-Motiv eingeprägt hat. Jetzt startet die Trompete einen Soloausflug, erst mit geschmeidigem Swing, danach immer freier und ungebärdiger. Sittsamer Beifall im Auditorium. Der Pianist ist dran, spielt sich zum Warmwerden durch einige Zitate alter Meister, um anschließend wie ein Berserker Blockakkorde aufeinander zu türmen.
Kurz bevor alles einstürzt, lässt er dem Tenorsaxofon den Vortritt, das den Erzählfluss in waghalsigen Kurvenfahrten zurück in den Blues-Parcours zwingt. Jedes Solo wird nach einigen Schrecksekunden höflich beklatscht. Doch selbst die Ensemble-Passagen arbeiten mit Texturen, die alles, was man zuvor unter Jazz verstand, aufs Äußerste strapazieren. Da kommt die Rückkehr zum merkwürdigen Fanfaren-Thema fast einer Erlösung gleich und mündet nach 26 Minuten in einen lebhaften Schlussapplaus.
Es ist der 16. April 1964, und der berühmt-berüchtigte US-Bandleader, Bassist und Jazz-Erneuerer Charles Mingus gastiert mit einem prominent besetzten Sextett gerade zum ersten Mal in Westdeutschland: Sie spielen vor 220 Zuschauer:innen im Sendesaal Studio F von Radio Bremen. „Hope So Eric“ heißt das Auftaktstück dieses Konzerts, das im weiteren Verlauf noch zweieinhalb Stunden dauern sollte und in vieler Hinsicht überwältigend gewesen sein muss. Selbst als Anything-Goes-Verfechter:in wird man gehörig durchgeschüttelt, wenn man sich die nun veröffentlichten Aufnahmen zu Gemüte führt.
Aktenkundige Verstörungen
Nicht wenige Auftritte von Mingus’ damaliger Band mit Eric Dolphy, Johnny Coles, Clifford Jordan, Jaki Byard und Dannie Richmond sind auf regulären Alben und Bootlegs dokumentiert, und speziell von jener Europatournee 1964 wurden auch etliche Verstörungen außermusikalischer Art aktenkundig. Was man auf den Bremer Mitschnitten nicht hört, sind die verbalen Ausraster des Leaders – mal an die Adresse seiner Musikerkollegen, die das schon kannten, mal in Richtung Publikum, das sich (stellvertretend für die „alten Kameraden“, die hier eher nicht zugegen waren) als „Nazis“ beschimpfen lassen musste.
Charles Mingus: „Bremen 1964 & 1975“ (Sunnyside/GoodtoGo)
So also gestaltete sich die leibhaftige Begegnung mit dieser musikalisch wie charakterlich komplexen Reizfigur Charles Mingus, auf die man im Westdeutschland der 1960er Jahre nur ungenügend vorbereitet war und die sogar die wenigen Insider auf eine harte Probe stellte: Der damalige Radio-Bremen-Redakteur Siegfried Schmidt-Joos – er hatte als großer Fan das Konzert eingefädelt und dem Bandleader vorab das Blaue vom Himmel versprochen – riet Mingus anderntags im Weser-Kurier, sich den europäischen Gepflogenheiten besser anzupassen, wenn er wiederkommen wolle.
Was hatte Mingus’ Psychiater Edmund Pollock ein Jahr zuvor in den Liner Notes für dessen Album „The Black Saint and the Sinner Lady“ prognostiziert? „Es muss betont werden, dass Mr Mingus bisher keine vollständige Persönlichkeit ist. Er ist immer noch in einem Prozess der Veränderung und der persönlichen Entwicklung. Bleibt zu hoffen, dass seine Integration in die Gesellschaft damit Schritt hält. Man darf weitere Überraschungen von ihm erwarten.“
Gift, Galle und fantastische Musik
Wie aber konnte es sein, dass da trotz Gift und Galle eine so fantastische Musik über die Rampe kam? Nun, genau solche Antagonismen haben Mingus stets zusätzlich stimuliert. Zudem hatte er die besten Sidemen seiner Zeit dabei, allen voran den Multiinstrumentalisten Eric Dolphy, den Prinzen der damaligen US-Jazzszene und mit 36 Jahren noch immer eine Verheißung. 1961 an Ornette Colemans Album „Free Jazz“ beteiligt, galt Dolphy längst als Exponent des sogenannten Third Stream, den der Komponist Gunther Schuller als Bindeglied zwischen europäisch geprägter Neuer Musik und amerikanischem Modern Jazz proklamiert hatte.
Dolphy hatte geplant, nach der Tour in Europa zu bleiben, er starb keine drei Monate später in Westberlin an einem nicht rechtzeitig erkannten Diabetes. Eric Dolphy prägt auch die überwältigende halbstündige Konzert-Fassung von Mingus’ Komposition „Fables of Faubus“ (benannt nach dem rassistischen Gouverneur Orville Faubus, der 1957 die Unruhen in Little Rock, Arkansas, die nach den Angriffen auf schwarze Schüler:innen ausgebrochen waren, nur mit der Nationalgarde niederschlagen konnte). Sie prasselt als zweites Stück auf das Bremer Publikum nieder.
Bei aller stilistischer Freiheit, von der auch die anderen Solisten reichlich Gebrauch machen: Mingus’ Musik ist hochgradig formbewusst, am großen Duke Ellington geschult, und immer gilt das Kommando des Meisters. Werner Burkhardt, ein weiterer Augenzeuge, war in seiner Konzertrezension in der Welt mehr als irritiert von Mingus’ tyrannischem Gehabe, das dessen hehrer Botschaft von Freiheit und Erneuerung seiner Ansicht nach Hohn sprach.
Zahlreiche Querverbindungen
Dass Mingus seine Musiker dabei immer auch besser machte, hat jedoch sogar sein früherer Posaunist Jimmy Knepper beteuert, der bei einer tätlichen Auseinandersetzung mit dem Chef mal einen Zahn einbüßte. Mingus steigerte das Ausdrucksvermögen seiner Musiker, er war weniger an der instrumentaltechnischen Raffinesse interessiert, auf die es etwa ein Art Blakey bei den Mitgliedern seiner Messengers abgesehen hatte. Nicht von ungefähr gibt es bei Mingus, dem „Surrealisten des Jazz“ (so urteilte sein Kollege Julian „Cannonball“ Adderley), zahlreiche Querverbindungen zu anderen Künsten. So komponierte er zwei Ballettmusiken und den Soundtrack zu John Cassavetes’ Film „Shadows“, auch literarischer und publizistischer Geleitschutz waren in Reichweite, von Langston Hughes bis Nat Hentoff.
Merkwürdig, dass sich heute nicht mehr viele Musiker:innen an Kompositionen von Charles Mingus herantrauen. Ausnahme ist die 34-jährige US-Pianistin und Sängerin Stephanie Nilles, von der demnächst ein Album ihrer Interpretationen von Mingus-Stücken veröffentlicht wird. Aufgenommen hat sie die Musik schon – übrigens ebenfalls im Studio F des inzwischen privatisierten Bremer Sendesaals.
Immerhin, Charles Mingus kam noch ein zweites Mal nach Bremen. Wenig geläutert, aber in bestechender Tagesform spielte er am 9. Juli 1975 im Quintett mit Jack Walrath, George Adams, Don Pullen und Dannie Richmond in der „Post-Aula“, und erneut schnitt Radio Bremen das Konzert mit. In den 1970ern war Mingus als unbezähmbarer Erneuerer der Jazztradition endlich respektiert und auch in Westdeutschland wohlgelitten.
Richtige Gassenhauer
Nur gerade „Fables of Faubus“ war noch immer im Set des Abends, zusätzlich brachte Mingus Schlachtrösser wie „Sue’s Changes“ und „Free Cell Block F, ’Tis Nazi USA“ mit, schwelgte in der eleganten Huldigung „Duke Ellington’s Sound of Love“, um dann eine ausgeflippte Zwei-Minuten-Version von „Cherokee“ dranzuhängen. Und im Zugabenteil hatte er mit „Devil Blues“ sogar einen richtigen Gassenhauer auf Lager. Auch dieses Konzert zog sich über triumphale zweieinhalb Stunden, in denen Mingus als Bandleader, Komponist und auch noch mal als Gott am Kontrabass auftrumpfen konnte (bevor er krankheitsbedingt dafür George Mraz und Eddie Gomez anheuern musste).
Spätestens in der Dekade zwischen den beiden Bremer Konzerten hat sich Charles Mingus in den Olymp gespielt: Jazz mit Black Power grundiert, in den Titeln der Stücke oft politisch zugespitzt, mit Gospel-Inbrunst vorgetragen, mit Mut auch zur Kakophonie und einem unstillbaren Drang zu zeitloser und überzeitlicher Musik, die nach hinten in die Jazztradition ausgreift und genauso nach vorn in avantgardistisches Niemandsland. Und mittendrin, 1971, erschien seine autofiktionale Bekenntnisbiografie „Beneath the Underdog“, in der Mingus sich gleich eingangs als multiple Persönlichkeit outete („Ich bin der Mann, der beobachtet und wartet, der Mann, der angreift, weil er Angst hat, und der Mann, der vertrauen und lieben will.“).
Empfohlener externer Inhalt
Sue's Changes
Die erste deutsche Ausgabe, übersetzt von einem gewissen Frank Witzel, folgte erst 1980, ein Jahr nach Mingus’ frühem Tod. Große Aufschneider-Prosa, die Gangsta-Rapper wie Waisenknaben aussehen und den lieben Gott einen Boogie Man sein lässt und lohnt die Lektüre. Das einschlägige Zitat („God Must Be a Boogie Man“) hat später auch Joni Mitchell als Songtitel in ihrer Mingus-Hommage verwendet.
Die Intensität eines Charles Mingus hat der Jazz seither nur ganz selten wieder erreicht. Dank dieser auf Betreiben von Label-Chef François Zalacain und Ex-Radio Bremen-Mitarbeiter Volker Steppat veröffentlichten Live-Aufnahmen kann man sich jetzt mit Gewinn einer musikalischen Urgewalt ausliefern, die angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen in den USA besser nicht passen könnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen