Sozialpädagogin über vergessene NS-Opfer: „Es ging um die Norm“
Die Sozialpädagogin Christa Paul über Schicksale der sogenannten asozialen KZ-Häftlinge, die nach 1945 lange nicht als Opfer anerkannt wurden.
taz: Wie sind Sie auf das Schicksal der sogenannten asozialen Häftlinge in den KZs aufmerksam geworden, Frau Paul?
Christa Paul: Ich habe vor vielen Jahren zum Thema Bordelle in Konzentrationslagern recherchiert. Die Frauen, die in den Häftlingsbordellen der Konzentrationslager arbeiten mussten, waren in der Regel als sogenannte Asoziale inhaftiert.
Wer fiel sonst in diese Kategorie?
61, ist Professorin an der Northern Business School Hamburg.
Das waren Menschen, die aus irgendwelchen Gründen nicht den nationalsozialistischen Vorstellungen von einem geordneten Leben entsprachen. Es waren Menschen, die auf der Straße gelebt haben, die keiner regelmäßigen Arbeit nachgegangen sind. Bei den Frauen waren es insbesondere solche, die sich nicht an die strikten Vorgaben für Prostitution gehalten haben.
Was versprach man sich davon, diese Menschen ins KZ zu bringen?
Auf jeden Fall eine Reglementierung; es ging darum, die Norm durchzusetzen und es war eine Mahnung für alle anderen. Es ging aber auch darum, dass die SS zu dem Zeitpunkt, wo diese Häftlingsgruppe in die Konzentrationslager verbracht wurde, Häftlinge für die Rüstungsbetriebe brauchte. Ziel war dabei aber nicht die Vernichtung durch Arbeit.
Wie war das Verhältnis der anderen Häftlingsgruppen zu den sogenannten Asozialen?
Es gab Vorbehalte: Die politischen Häftlinge fühlten sich diskreditiert dadurch, dass sie gemeinsam mit den sogenannten Asozialen inhaftiert waren. Deren Stigmatisierung und Ausgrenzung, die ja in der allgemeinen Bevölkerung auch durchaus vorzufinden war, hat sich innerhalb der Häftlingsgemeinschaft wiedergefunden.
Von anderen Häftlingsgruppen weiß man, dass sie sich zu ihrem Überleben organisiert haben. Gilt das auch für sie?
„Überlebt! Und nun? NS-Verfolgte in Hamburg nach ihrer Befreiung“: bis 22. 8., Hamburg, KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Nein, diese Gruppe hat sich nicht organisiert. Die Menschen hatten nicht das entsprechende politische Bewusstsein und auch keine Erfahrung, sich politisch zu organisieren und sie waren als Gruppe sehr heterogen.
Hat das dazu beigetragen, dass sie nach 1945 bei den Entschädigungen so unter den Tisch fielen?
Das hat bestimmt eine Rolle gespielt. Es gab in Bayern eine Gruppe, die sich frühzeitig organisiert hat, aber sie war nicht besonders erfolgreich. Wer sich nach dem Krieg organisiert hat, waren die Menschen, die zwangssterilisiert worden waren. Das waren nicht unbedingt Menschen, die im Konzentrationslager gewesen waren, aber sie stammten meist aus einer ähnlichen Bevölkerungsschicht. Wenn ich mir aber anschaue, wie schwer es schon die politischen Häftlinge hatten, eine Form von Wiedergutmachung durchzusetzen, dann stelle ich es mir zu der Zeit sehr schwer vor für die sogenannten Asozialen. Weite Kreise der Bevölkerung waren ja noch dem Nationalsozialismus verbunden.
Gab es solche Kontinuitäten auch gerade in der Wahrnehmung?
Es gibt etwa Kontinuitätslinien im Rahmen der Fürsorge. Da gab es schon während der Weimarer Republik starke Strömungen, die darauf abzielten, Menschen, die von der Norm abwichen, einzusperren, auch wenn sie nicht straffällig geworden waren. Da war die sogenannte Bewahrung. Das ist während der Weimarer Republik nicht umgesetzt worden, auch nicht während des Nationalsozialismus, weil die Fürsorge gegenüber der Polizei nicht durchsetzen konnte, dass sie die Kontrolle über diese Bevölkerungsgruppe hatte. Nach 1945 gab es wieder solche Bestrebungen der Fürsorge.
Die politisch Verfolgten, Homosexuelle, allmählich auch Sinti und Roma genießen inzwischen gesellschaftliche Akzeptanz – für die sogenannten Asozialen gilt das noch immer nicht.
Seit Anfang der 90er-Jahre gab es parlamentarische Initiativen, die dazu geführt haben, dass diese Menschen nach und nach auch Ansprüche auf Entschädigung geltend machen konnten. Das hatte auch damit etwas zu tun, dass die Grünen in den Bundestag gekommen waren und das Thema bewegten. Im Januar 2020 hat der Bundestag eine Anerkennung der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher als NS-Opfergruppe ausgesprochen.
Schön – aber für die Betroffenen zu spät, oder?
Ja, natürlich. Selbst in den KZ-Gedenkstätten sind sie erst spät thematisiert worden.
Über Ihrem Aufsatz zum Thema steht „Vergessene Opfer?“. Ist das ein gezieltes Vergessen gewesen?
Es ist bewusstes Handeln, eine fortgesetzte Ausgrenzung. Es gab schon in den 50er-Jahren Aussagen etwa von KPD- oder SPD-Mitgliedern, dass natürlich alle Häftlinge ein Recht auf Entschädigung hätten – und dann haben sie die politisch, rassisch oder religiös Verfolgten genannt, aber nicht die sogenannten Asozialen.
Gab es jemals Stimmen, die dagegen gesprochen haben?
Ein baden-württembergischer Justizminister, der sich aber nicht durchgesetzt hat.
Wodurch ist letzten Endes Bewegung in das Thema gekommen?
In den 90er-Jahren hat sich ein Blick auf den Nationalsozialismus entwickelt, in dem er als Phase der Moderne betrachtet wird. Da ging es darum, auch Sozialpolitik unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, etwa die staatliche Sozialdisziplinierung. Das hat auch für die Gegenwart sensibilisiert und für die Ausgrenzungsprozesse, die gegenwärtig stattfinden.
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