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Coming-of-Age in NiedersachsenIns Dunkle kippen

Lisa Krusche lässt magischen Realismus durchs ländliche Niedersachsen wehen. Ihr Roman erzählt von Hippies und Jungsein: „Unsere anarchistischen Herzen“.

Hat kein Interesse daran, Realitäten eins zu eins abzubilden: Lisa Krusche Foto: Julian Stratenschulte/dpa

In den Ruinen der Welt schwimmt Judith durch giftiges Wasser und träumt davon, mit einem Meerestier zu verschmelzen. Ob sie ein Mensch oder ein Avatar ist, wird die Leserin nicht erfahren; ebenso wenig, was nach der Apokalypse kommt, die in Lisa Krusches Text „Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere“ entworfen wird. Die Science-Fiction-Dystopie brachte Krusche beim Bachmannpreis 2020 viel Lob ein.

Ihr nun erschienener Debütroman „Unsere anarchistischen Herzen“ spielt nicht nach der Endzeit, sondern im Niedersachsen der Gegenwart, aber dennoch spielen ihre Heldinnen auch dort mit Gedanken an entgrenzte, modifizierte Körper. „ich will mich abtrennen von der Welt“, denkt die junge Gwen, die schon als Kind belästigt, angefasst und gedemütigt wurde – bevor sie dann an Karamell denkt: Wie es wohl wäre, in der klebrigen Masse zu baden, damit man selbst zur Fliegenfalle wird, „süß am ganzen Körper, und alle Fliegen würden Karies kriegen. Oder sterben“?

Krusche wurde 1990 in Hildesheim geboren, lebt in Braunschweig und sagt, sie sei nicht interessiert daran, Realitäten eins zu eins abzubilden. Umso verwunderlicher ist es, dass „Unsere anarchistischen Herzen“ zunächst nach klassischer Coming-of-Age-Geschichte aussieht. Den Roman erzählt Krusche abwechselnd aus Sicht von Charles und Gwen, zwei jungen Frauen aus dysfunktio­nalen Elternhäusern, die einander Freundinnen und Stütze werden. Wobei die Versuchsanordnung zuerst mal ziemlich bekannt wirkt.

Charlis Geschichte nämlich beginnt damit, dass ihr strauchelnder Vater nackt durch Berlin-Charlottenburg rennt. Kurz darauf beschließt die Familie, von der vermeintlich toxischen Großstadt in eine Art Kommune nahe Hildesheim zu ziehen. Dort gibt es verstrahltes Achtsamkeitsgerede, drei Mit­be­woh­ne­r:in­nen in einer unmöglichen Dreiecksbeziehung und veganes Rührei, was nicht weiter überraschend wäre, wenn diese Ha-Ha-Hippie-Klischees nicht so brutal ins Dunkle kippen würden.

Drogen und psychische Probleme

Charlis Künstlereltern sind nämlich nicht etwa liebenswerte Schussel, denen manchmal die Brille bei der Unterscheidung von Nonkonformismus und Verantwortungslosigkeit verrutscht, sondern bürden ihre Probleme – mit Drogen, psychischen Problemen, vor allem ihr Straucheln mit der eigenen Elternschaft – kompromisslos ihren Kindern auf. „Ich dachte, du wärst untergegangen, ich war so erleichtert“, sagt Charlis Vater, als er ihr davon erzählt, wie sie als Kind fast ertrunken wäre.

Auch Gwens Familie glaubt man zunächst aus tausend Geschichten zu kennen: Es sind kalte Oberflächenmenschen, die in einem Designer-Glaskubus leben und einander verachten. Wenn die Freunde ihres Vaters Gwen befummeln, guckt er weg.

Vor allem ihre Kapitel sind oft unterbrochen von Sequenzen, die man vielleicht nicht als streams, sondern eher als bits of consciousness bezeichnen könnte – Gedankenfetzen, kleine Einschübe, die oft sentimentaler, weicher und irgendwie weiser als Gwens Erzählungen klingen. Als würde da eine Stimme sprechen, die sich die früh nihilistisch und tough gewordene Jugendliche schon lange abtrainiert hat.

Krusche lässt die beiden gut den halben Roman lang nebeneinander her leben, bis sie schließlich in einem Kiosk aufeinandertreffen, jede eine Epiphanie für das Gegenüber: das „High-End-Pferdemädchen“ Gwen, „Labels dezent, aber all over her body“, und Charli auf ihrem Hauspony Gerd, eine Pippi-Langstrumpf-haft starke, surreale Erscheinung.

Magischer Realismus

Überhaupt weht eine Art magischer Realismus durchs ländliche Niedersachsen. Spricht Charli mit den Bäumen, kriegt sie eine Antwort; verbrennt ihr Vater im Wahn seine Kunstwerke, kommt eine Riesin herbei und löscht das Feuer. Und wenn die Wut über Gwen hereinbricht, wird die Welt um sie herum zum roten, reißenden Mahlstrom.

Das Buch

Lisa Krusche: „Unsere anarchistischen Herzen“. Fischer, Frankfurt a. M. 2021, 448 Seiten, 23 Euro

Dann verabredet sie sich mit Fremden auf „Rumblr“, einem Portal zum Arrangieren von lockeren Prügel-Dates: Ein Gag, der zugleich Anspielung auf Dating-Apps sowie das Portal ­Tumblr und ein kleines „Fight Club“-Dystopie-Update ist.

Insignien von Zeitgeistigkeit, Jugend- und Internetsprache (oder das, was nicht-mehr-ganz-jugendliche Au­to­r:in­nen und Kri­ti­ke­r:in­nen dafür halten) hatten im vergangenen Jahr auch viele an Leif Randts Roman „Allegro Pastell“ fasziniert.

Fragmentarisch und tastend

Aber anders als bei dessen Millennial-Belegschaft ist bei Krusches jugendlichen Heldinnen nicht jeder Nachrichtenverlauf ostentativ smart, nicht jedes Emoji überfrachtet mit Bedeutung. Chats und Anglizismen sind, was sie halt sind bei Teens, und fügen sich ein in Krusches Sprache, die oft fragmentarisch und tastend bleibt, dabei aber unverbrüchlich stark klingt – um schließlich wieder zu überlebensgroßer, teenage-ängstlicher Poesie aufzuwallen.

Alles gleitet ineinander über: Unglaubliches und Alltag, Opulenz und Reduktion. Und alles hat seinen Zweck, um sehr zeitgemäß und bewegend von den Schrecken, aber auch den Möglichkeiten des Jugendlich- und des Frauseins zu erzählen. Egal, ob da jemand im postapokalyptischen Niemandsland festsitzt. Oder in Hildesheim.

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