Klimapolitik von unten: „Schauen, wozu wir bereit sind“
Die Neuköllnerin Seher Cemen sitzt als eine von drei Berliner*innen im Bürgerrat Klima, der Empfehlungen für die Bundesregierung erarbeiten soll.
taz: Frau Cemen, was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass Sie für den Klimabürger*innenrat ausgelost wurden?
Seher Cemen: Als ich die E-Mail bekam, habe ich mich sehr gefreut. Ich war und bin glücklich, Teil eines solch großen Projekts sein zu dürfen. Es machen ja 160 Menschen aus ganz Deutschland mit.
Wussten Sie gleich, was das ist, der Klimabürger*innenrat?
Also, zuerst habe ich einen Anruf bekommen. Da wollte ich eigentlich gleich wieder auflegen, weil ich dachte, da will mir jemand eine Waschmaschine andrehen. Aber die Dame am Telefon klang sehr seriös und ehrlich. Dann habe ich noch eine sehr gute, informative E-Mail bekommen und begriffen, dass das kein Betrug oder Quatsch ist.
War Klimawandel ein Thema, mit dem Sie sich vorher schon beschäftigt haben?
Auf jeden Fall. Ich habe mal im Rahmen eines Werksstudentenjobs bei einer gemeinnützigen Organisation gearbeitet, die sich für nachhaltige Lernkultur einsetzt. Wir haben dort Unterrichtsmaterial für Schulen erstellt und bei einem Projekt ging es speziell um Nachhaltigkeit und Klimawandel. Dabei habe ich einen sehr tiefen Einblick in das Themengebiet bekommen.
ist 25 Jahre alt und studiert Germanistik auf Lehramt. Sie lebt in Rudow bei ihren Eltern und hat zwei Geschwister. Cemen ist eine von drei Berliner*innen, die in den Bürgerrat Klima gelost wurden.
Sie arbeiten also im Bildungsbereich?
Ich studiere zurzeit auf Lehramt, bin mir aber schon relativ sicher, dass ich mich beruflich umorientieren und einen anderen Weg einschlagen werde.
Wie funktioniert nun der Bürgerrat?
Wir hatten bis jetzt drei Sitzungen, in denen ging es erst mal darum, einen gemeinsamen Wissensstand aufzubauen. Dafür wurden Expert*innen eingeladen, vor allem Wissenschaftler*innen, die uns Fakten zum Klimawandel präsentiert haben. Beispielsweise wurden uns mehrere Zukunftsbilder vorgestellt, wie es in Deutschland in 30 Jahren aussehen könnte. Wir haben besprochen, was heutige Herausforderungen sind und was sich bis dahin ändern könnte – zum Beispiel, was Alternativen zur Massentierhaltung sein könnten oder wie wir uns als Gesellschaft eine neue Genügsamkeit aneignen.
Und wie geht es weiter?
160 nach repräsentativen Kriterien ausgeloste Bürger*innen sollen stellvertretend für die Bevölkerung Maßnahmen überlegen, wie Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen erreichen kann. In dem haben sich die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen. Mit dem 2019 vom Bundestag beschlossenen Klimapaket ist dieses Ziel laut Expert*innen nicht zu erreichen. Ein Grund für die Zurückhaltung der Politik ist vermutlich das gesellschaftliche Konfliktpotenzial politischer Maßnahmen, die Lebensgewohnheiten zu verändern. Der Bürgerrat soll klären, was Bürger*innen bereit sind zu tun. Das erste Treffen war am 26. April, nun trifft man sich einmal die Woche. Am 23. Juni ist die letzte Sitzung, dann wird über die Empfehlungen im Plenum abgestimmt.
In Frankreich hat ein Klimabürger*innenrat im vorigen Jahr teils drastische Empfehlungen erarbeitet, darunter das Verbot von Inlandsflügen. Allerdings scheint die dortige Regierung entgegen erster Äußerungen doch nicht gewillt, die Vorschläge umzusetzen.
In Deutschland gibt es bislang einen bundesweiten Bürgerrat Demokratie und viele lokale Bürgerräte. In Berlin soll bald ebenfalls ein Bürgerrat Klima eingesetzt werden. Mehr Infos: buergerrat-klima.de und buergerrat.de. (sum)
Jetzt werden wir in vier Handlungsfelder eingeteilt – Mobilität, Gebäude/Wärme, Energie und Ernährung. In jeder Gruppe überlegen wir, wie die Transformation angegangen werden kann. Wir sprechen spezifischer über die Themen und entwickeln Ideen und Empfehlungen für die Politik. Am 23. Juni ist die letzte Sitzung, dann kommen alle Teilnehmenden zusammen und werden über die Empfehlungen abstimmen.
Aber woher sollen die kommen?
Von uns Teilnehmer*innen. Die Idee ist ja herauszufinden, was die Bürger*innen wollen und was sie bereit sind für den Klimaschutz zu tun. Demnach wurden wir repräsentativ ausgewählt: nach Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Ortsgröße, Bundesland, Migrationserfahrung. Die deutsche Gesellschaft ist ziemlich gut abgebildet, denn wir sind wirklich sehr verschieden. Es geht also um Empfehlungen der Bürger*innen! Dazu findet vorab ein gemeinsamer Meinungsbildungsprozess statt: So bekommen alle Teilnehmenden die Möglichkeit, den Ernst der Lage zu begreifen, um dahingehend Empfehlungen zu entwickeln.
Am Ende wird eine Mehrheitsentscheidung gefällt?
Wahrscheinlich, so stelle ich mir das vor. In jeder Gruppe sind ja 40 Leute, die sich erst mal auf bestimmte Dinge einigen sollen. Es kann passieren, dass man da schnell in einer Bubble ist und sich im Plenum herausstellt, dass andere eine Idee nicht umsetzbar oder gut finden. Aus dem Grund stellen wir unsere Ergebnisse auch immer wieder dem Plenum vor.
Aber geht es darum, realistische Vorschläge zu entwickeln? Geht es nicht darum, zu tun, was notwendig ist, um den Klimawandel aufzuhalten?
Na ja, die Empfehlungen sollen ja direkt in die Politik einfließen. Es ist also eine Grundvoraussetzung, dass die Dinge, die wir fordern, umsetzbar sind. Unrealistische Empfehlungen werden wahrscheinlich sowieso nicht ernst genommen, egal wie wünschenswert sie für das Klima sind.
Aber wo ein Wille ist, ist ein Weg?
Ja, das ist der Punkt. Und es geht darum, Alternativen zu finden. Zum Beispiel halte ich es für unrealistisch zu fordern, Inlandsflüge zu verbieten, wenn es keine Alternativen wie gute Bahnverbindungen gibt. Man kann den Leuten nicht verbieten zu reisen! Man muss schauen, zu was die Gesellschaft bereit ist. Wenn Dinge verboten und keine Alternativen entwickelt werden, wird es schwierig, die Bürger*innen mitzunehmen und zu motivieren. Es wurde bei den ersten Treffen auch schon deutlich, dass im Bürgerrat einige kritische Stimmen vertreten sind.
Kritisch inwiefern?
Sie besorgt das Thema Klimawandel nicht so sehr, und sie blicken auch mit einer gewissen Unsicherheit in die Zukunft. Beispielsweise habe ich einige Teilnehmende mitbekommen, die meinen, sie könnten nicht aufs Autofahren verzichten. Genau mit diesen Menschen müssen wir ins Gespräch kommen. Warum meinen sie, ihr Auto zu brauchen? Weil der öffentliche Nahverkehr dort, wo sie leben, nicht so gut ist wie hier in Berlin? Ich als Berlinerin kann deswegen vielleicht leichter sagen, ich brauche kein Auto. Verzicht ist bei vielen ein großes Thema.
Das können ja noch heftige Diskussionen werden!
Ja, darauf freue ich mich sehr, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, die ganz andere Lebensumstände haben. Ich vertrete ja sozusagen die Hauptstadt oder Großstadt in dieser Runde – zusammen mit zwei anderen Berliner*innen. Der Austausch mit den Teilnehmenden ist mir wichtig.
Macht Ihnen der Klimawandel eigentlich Angst?
Angst ist nicht das richtige Wort, ich bin eher besorgt. Ich sehe den Klimawandel als Bedrohung für das globale Allgemeinwohl. Wir in Deutschland sind ja noch nicht sehr stark betroffen und leben sehr privilegiert. Klar gibt es Veränderungen, etwa beim Wetter. Aber für Menschen in Entwicklungsländern ist die Lage schon jetzt existenzbedrohend. Darum müssen wir ins Handeln kommen, mit unserer Lebensweise in den Industrieländern funktioniert das global nicht.
Spielt das Thema für Ihre persönliche Lebensplanung eine Rolle, zum Beispiel, ob Sie Kinder haben möchten?
Ich möchte Kinder, aber heutzutage ist es wichtig zu bedenken, dass wir in einer Zeit der Herausforderungen leben, und der Klimawandel gehört auch dazu. Ich würde das intensiv in die Erziehung meiner Kinder einbringen und versuchen, ihnen Werte beizubringen, die heute viele verlernt zu haben scheinen. Ich denke oft daran, wie die Generation unserer Großeltern mit Lebensmitteln und materiellen Gütern umgegangen ist und wie verschwenderisch wir heute leben. Sie hatten eine ganz andere Wertschätzung. Ich achte mittlerweile vermehrt auf meinen Fleischkonsum oder überhaupt auf mein Konsumverhalten.
Zum Beispiel?
Ich liebe schöne Klamotten, bin ein absolutes Fashion Girl. Aber ich überlege es mir inzwischen genau, ob ich mir ein günstiges T-Shirt aus dem Fast-Fashion-Bereich kaufe, das ich eigentlich nicht brauche.
Vielen geht so ein Konsumverzicht ja schon zu weit. Wie ist das in Ihrem Familien- und Freundeskreis?
Tatsächlich ist mein Umfeld in der Frage eher gespalten: Einige sind mehr bereit zu tun, andere weniger. Aber durch viele aufklärende Gespräche, die wir im Laufe der Zeit hatten, hat sich da auch schon was geändert. Zum Beispiel haben wir früher in der Familie mehr Fleisch gegessen. Auch das Fliegen ist bei uns ein großes Thema, aber da haben wir noch keine Lösung gefunden.
Was meinen Sie?
Ich habe einen türkischen Migrationshintergrund und einmal im Jahr fliegen wir – also meine Familie, viele Freunde – in die Türkei. Und es würde vielen von uns schwerfallen, darauf zu verzichten. Das ist ja die einzige Chance, die dort lebenden Familienmitglieder zu sehen – und die einzige Chance auf einen rassismusfreien Urlaub noch dazu! Und für die Generation meiner Eltern ist es auch nicht einfach Urlaub: Für sie bedeutet es, in die Heimat zurückkehren. Dabei Abstriche zu machen ist wirklich schwierig.
Früher sind die Leute mit dem Auto gefahren, nicht geflogen.
Ja, wir haben das auch versucht. Aber das dauert 2 bis 3 Tage, für meine Eltern ist das zu anstrengend inzwischen. Ich weiß nicht, was eine Alternative wäre. Vielleicht Bahnfahren? Aber die Strecke ist noch nicht ausreichend ausgebaut, das ist nicht realistisch.
Das wäre wieder Aufgabe der Politik.
Ja, genau. Bislang ist fliegen die einzige Option, das sollte darum auch nicht einfach verboten werden. Bei Inlandsflügen ist das anders, man muss ja wirklich nicht von Berlin nach München fliegen. Aber auch hier muss man schauen, ob die Leute bereit sind, ihr Verhalten zu ändern. Und ich denke, es ist die Aufgabe von Menschen wie uns, die an seriöse Quellen kommen und Bildung haben, die anderen aufzuklären: über Alternativen und darüber, was passiert, wenn wir so weitermachen. Das darf aber nicht mit dem Zeigefinger passieren oder von oben verordnet werden.
Wenn Sie Königin von Deutschland wären, was würden Sie tun fürs Klima?
Es gibt drei Punkte, die mich persönlich sehr bewegen: Menschen, die anderswo unter unserem Lebensstil leiden, die Textilindustrie und die Fleischindustrie. Um hier etwas zu ändern, würde ich, wenn ich Königin von Deutschland wäre, viel mehr Geld in die Bildung investieren und dafür sorgen, dass der Klimawandel intensiv in den Schulen behandelt wird. Politisch würde ich einen gesetzlichen Rahmen für die Textilindustrie setzen, um der Ausbeutung der Menschen in den Fabriken ein Ende zu setzen und kleine, nachhaltige Betriebe besser zu fördern. Auch bei der Massentierhaltung muss ein strengerer gesetzlicher Rahmen her. Bei dem Thema gibt es, glaube ich, auch eine große Bereitschaft, fleischlose Alternativen auszuprobieren. Das muss politisch unterstützt werden, denn Alternativprodukte sind leider immer noch sehr viel teurer als Fleisch.
Der Preis ist auch bei Textilien ein Problem
Eine nachhaltige Jeans kostet schon mal 200 Euro! Da muss etwas passieren, damit auch Student*innen wie ich mit wenig Geld die Möglichkeit haben, nachhaltig zu konsumieren.
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