Slow-TV in Skandinavien: Warten auf die Elche
In Skandinavien sind Dauersendungen aus dem Wald, von Bahn- oder Schiffsfahrten sehr beliebt. Was langweilig klingt, finden viele entspannend.
Es geht um Elche. Und eines ist sicher: Erhag ist definitiv die richtige Person für diesen Job. Immer aufs Neue von Elchen fasziniert, ist er Projektleiter eines Elchprogramms. Das ist nicht irgendeins, sondern das Elchprogramm. Ein Publikumsrenner. Im dritten Jahr übertrug das öffentlich-rechtliche schwedische SVT in diesem Frühjahr live und rund um die Uhr die wochenlange Dauersendung „Den stora älgvandringen“, also „Die große Elchwanderung“. Bei der Premiere im Frühjahr 2019 sendete man 450 Stunden an einem Stück, 2020 waren es 768 Stunden, und in diesem Jahr lief das Programm ab dem 18. April ganze 520 Stunden lang.
Und was sehen die Millionen ZuschauerInnen, die diese Elchsendung oft Stunden an einem Stück gucken? Natürlich Wald, viel Wald. Dazu glucksendes Wasser, einzelne Eisschollen, Vogelschwärme am Himmel, mal einen Adler oder Birkhühner. Und am Flussufer taucht vielleicht ein Biber, Otter, Fuchs oder Rentier auf. Was meistens fehlt, sind – Elche. Aber das stört offenbar nicht.
Die Reaktionen in Schweden und Finnland, wo die „Älgvandringen“ auch übertragen wird, sind überschwänglich: Herrlich entspannend sei das, heißt es oft, fast so, als ob man da selbst am Ufer säße und langsam der Frühling einzöge. Oder mit den Worten einer Rezensentin von Svenska Dagbladet: „Die Seele bekommt direkt durch den Schirm ein Bad in der Schönheit und Warmherzigkeit der Natur.“ Und Elche kommen dann manchmal sogar auch ins Bild. Sie überqueren nämlich auf dem Weg von den Winterweiden am Meer zu den Sommerweiden in den Bergen den Fluss Ångermanälven im südlichen Lappland an einer bestimmten Stelle: bei Kullberg, rund 150 Kilometer von seiner Mündung in die Ostsee entfernt. „Sie machen das vielleicht schon seit der Steinzeit“, vermutet die Elchforscherin Wiebke Neumann.
Entgegen der gängigen Medienlogik
Ein System von Fanggruben aus dieser Zeit, die man dort gefunden habe, deute darauf hin: „Die Kuh geht mit dem Kalb, und so wird von Generation zu Generation weitergegeben, wo die beste Stelle ist, um rüberzuschwimmen.“ Und genau hier hatte man auch die von zehn Kameraleuten im Schichtbetrieb ferngesteuerten und mit 17 Kilometern Kabel verbundenen rund dreißig Kameras der Liveübertragung platziert.
Mit der Dauersendung hat das schwedische Fernsehen ein Programmformat übernommen, dass das öffentlich-rechtliche norwegische NRK 2009 erstmals getestet und seither weiterentwickelt hatte: Slow-TV, „Sakte-TV“ auf Norwegisch. Das Format ist lang und vor allem langsam und steht der gängigen Medienlogik mit ihren schnellen Schnitten und dem Bemühen, eine ständige Spannung aufrechtzuerhalten, entgegen. Die erste norwegische Marathonsendung und Geburtsstunde von „Minutt for minutt“ („Von Minute zu Minute“) war die Liveübertragung einer siebenstündigen Bahnfahrt von Oslo nach Bergen.
Mit einer Kamera im Führerstand Bahnfahrten abzufilmen, das hat man schon in Großbritannien und bei Bahn-TV in Deutschland gemacht. „Aber sieben Stunden live war natürlich ein Wagnis“, erinnert sich Rune Møklebust, der seinerzeit für „Minutt for minutt“ verantwortlich war. Und eigentlich sollte es nur eine einmalige Sache sein, womit man auf das 100-jährige Jubiläum dieser Bahnstrecke aufmerksam machen wollte, die zu den schönsten Europas gehört. Doch dann seien es mehr als die paar Tausend Eisenbahnfans gewesen, mit denen man vorab gerechnet hätte, sagt Møklebust: „Es wurde ein durchschlagender Erfolg. Da überlegten wir uns, etwas Größeres zu versuchen.“
Vom 18-stündigen Lachsfischen
2011 entwickelte sich dann „Hurtigruten minutt for minutt“ – die fünfeinhalbtägige Direktübertragung der Fahrt eines Hurtigrutenschiffs von Bergen nach Kirkenes – zu einem regelrechten Volksfest entlang der norwegischen Küste. An jeder Anlaufstelle des Postschiffs drängten sich die Menschen am Kai, um die „MS Nordnorge“ zu begrüßen. Der ausstrahlende Kanal NRK 2, wo man sonst mit einem Marktanteil von 4 Prozent zufrieden ist, schlug mit fast 40 Prozent alle bisherigen Rekorde. Am Ende hatten mit 2,8 Millionen ZuschauerInnen mehr als die Hälfte der NorwegerInnen das Programm jedenfalls teilweise verfolgt.
Vom 18-stündigen Lachsfischen, bei dem es drei Stunden dauerte, bis der erste Lachs beißen wollte, über einen Strickabend bis zum Zug einer Rentierherde gab es bislang 27 solcher Slow-TV-Sendungen. „Basis jeden Programms ist aber eine Geschichte, die wir erzählen wollen“, sagt der aktuelle Projektleiter Thomas Hellum vom norwegischen Sender NRK.
Was die schwedische „Elchwanderung“ von nahezu allen dieser norwegischen Programme aber unterscheidet: Die Hauptrolle spielt hier ausschließlich die Natur, Menschen kommen nicht vor, und die Bilder bleiben unkommentiert. Für diejenigen, die die Highlights nachschauen wollen, markiert die Redaktion diese in den Aufzeichnungen: „Nummer 37–39 schwimmen“, oder: „Fuchs fängt Fisch“. „Die Popularität des Programms kann als Reaktion auf ein immer schnelleres Fernsehen interpretiert und mit der Slow-Food- und Slow-City-Bewegung in Verbindung gebracht werden“, heißt es in einer Publikumsuntersuchung.
Eine mutige Entscheidung
Der Journalist Nathan Heller vermutete im Magazin The New Yorker: „Anstatt das Innenleben seiner Zuschauer zu ertränken“, sei Slow-TV „wohl eine Kulisse für deren eigene Reflexionen“. Im SVT-Pressematerial sieht man es ähnlich: Die langsame Dramaturgie lasse die Gedanken der ZuschauerInnen wandern, man finde einen eigenen Kontext, reagiere auf die Umgebung, analysiere kleine Details und bekomme auf dem Weg über diese eigene Aktivität eine Art Belohnung.
Aber warum ist Slow-TV gerade in den skandinavischen Ländern so beliebt? „Dieses neue Reality-TV-Format klingt langweilig und ist langweilig“, urteilte beispielsweise der Sender Al Jazeera. In Großbritannien versuchte sich die BBC an einer Kopie, aber „BBC Four Goes Slow“ wurde ein Flop und nach zwei Jahren eingestellt. Bemühungen von NRK, das Format auf der TV-Messe in Cannes zu verkaufen, waren ebenfalls wenig erfolgreich.
Zwar hätten viele die „Minutt for minutt“-Idee toll gefunden, weil es das Gegenteil dessen wäre, das alle anderen machten, berichtete NRK-Programmchef Ole Hedemann vor einigen Jahren. „Aber der Markt ist eben sehr kommerziell.“ Einen Kanal für mehrere Stunden oder gar Tage für so eine Sendung frei zu machen, dazu gehöre Mut. „Hätte uns das jemand erzählt, hätten wir vermutlich auch nicht unbedingt daran geglaubt“, sagt Thomas Hellum von NRK. „Es war definitiv nicht geplant, wir waren ja selbst überrascht.“ Es gäbe woanders aber sicher ebenfalls Geschichten über Land und Leute, die man auf so eine Art erzählen könnte, lockte NRK-Programmchef Hedemann.
Schweden wagte sich mit seinen Elchen auch erst zehn Jahre nach dem Nachbarland an das Format. In diesem Sommer will das norwegische NRK jedenfalls mit sechs Wochen Liveübertragung einen neuen Rekord aufstellen: Das 106 Jahre alte Segelschulschiff „Statsraad Lehmkuhl“ wird vom 6. Juli bis zum 15. August 29 norwegische Häfen und Lerwick auf den Shetlands anlaufen. Und bis Mittwoch kann man noch live bei „Mot ljusare tider“ dabei sein: einem zehntägigen Programm, mit dem das schwedische SVT – mithilfe von im ganzen 1.500 Kilometer langen Schweden verteilten Kameras – die hellen Sommernächte begrüßt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Streitgespräch über den Osten
Was war die DDR?
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?
Ausschreitungen in Amsterdam
Ein hitziges Nachspiel
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!