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Ausstellung der Designerin Anaïs BorieDer Mensch, das Fossil der Zukunft

Anaïs Borie hat im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe eine Ausstellung über die Transformation von Natur durch Technik konzipiert.

So wird vielleicht künftig auch der Mensch „verfeinert“: Heliotropschale mit Greifengriffen von 1621 Foto: Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg

Hamburg taz | Wenn man etwas Natürliches nimmt – einen Stein oder ein Schneckengehäuse – und es versilbert, vergoldet, ein bisschen verändert: Ist das noch Natur oder schon Kunst? Ist das Ergebnis eine übergriffige Verunstaltung oder eine erlesene Veredlung? Die Erschaffer des Nautiluspokals und der Heliotropschale des 17. Jahrhunderts haben wohl nicht darüber sinniert – auch wenn ihnen bewusst war, dass diese Ambivalenz den (dekadenten) Reiz dieser Artefakte ausmachte.

Wie nun aber, wenn man diese Methode weiterdenkt und das „Naturmaterial“ Mensch mit moderner IT-Technik veredelt, indem man ein ähnliches Wesen schafft? Wenn das so gut gelingt, dass die Welt unmerklich von immer mehr CyborgInnen, RoboterInnen und AndroidInnen bevölkert ist?

Diese Gedanken hat sich die 1991 in Frankreich geborene Designerin Anaïs Borie gemacht, seit einem halben Jahr Residentin des Fonds für junges Design am Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Im Ergebnis hat sie einen Raum gestaltet, in dem nicht nur besagte Pokale aus der Museumssammlung stehen. Teil ihrer Abschluss-Performance vom 9. Mai – nun auch auf der Museums-Homepage oder direkt auf Youtube zu sehen –, ist eine barock anmutende Schale, die Nebel und Rauch ausstößt und an ein kirchliches Weihrauchgefäß erinnert.

Die Ausstellung

Anaïs Bories Abschlusspräsentation ist bis 4.7.2021 im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen.

Dies könnte eine feine Anspielung darauf sein, dass das Streben nach Künstlicher Intelligenz (KI) in den Industrienationen schon fast fetischhafte Züge annimmt. KI ist – neben Geld – der neue Gott, um den die Industrienationen des Globalen Nordens tanzen. In diesen Nebel hinein singt die Sopranistin Sara Gouzy Arien des Barockkomponisten Jean-Philippe Rameau, eines damals wegweisenden Musiktheoretikers, der zeitweilig als allzu dissonant und modern galt. Wie seine Zeitgenossen, die Schöpfer des Nautiluspokals, hatte auch er das Vorhandene lediglich durch einige Kunstgriffe weiterentwickelt.

Ein paar Jahrhunderte später tut Anaïs Borie dasselbe mit ihrem Spiegel „Automated Divine Reflection“, dessen Software sie gemeinsam mit der Künstlerin Ines Alpha konzipierte: Darin sieht die BetrachterIn nämlich nicht sich selbst, sondern ein computergesteuertes Gesicht. Vielleicht ist es ein fremdes, vielleicht das eigene, verfremdet. Aber wer ist es dann eigentlich – noch Mensch oder schon Maschine?

Schlau blickt Borie in eine Zukunft, in der wir selbst die verfremdeten Steine und Fossilien sind. Allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Nicht mehr der Mensch, sondern die Kunst bzw. das Künstliche erschafft diese Wesen. Sondern der Mensch ist selbst Objekt einer Aktion, bei der er sich durch ein vermeintlich besseres Modell ersetzt.

Vielleicht ist das ja gar nicht schlimm. Denn auch die CyborgInnen der Zukunft werden glauben, dass sie die Menschheit sind, die seit 300.000 Jahren auf diesem Planeten existiert.

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