Mittagsgesang von Klangkünstlerin: Ein Stück Echtzeiterleben
Jeden Mittag um Punkt 12 Uhr erklingt im Hof des KW Institute for Contemporary Art das Rosa-Luxemburg-Lied. Gesungen von Susan Philipsz.
I ch schieße auf dem Fahrrad über die Karl-Marx-Allee zu einem lang ersehnten Kulturtermin, der um Punkt 12 Uhr mittags beginnt und eine Minute und vierzig Sekunden später schon vorbei ist. Länger dauert „Rosa“ nicht, die neue Soundarbeit von Susan Philipsz, und wenn die Besucherin nicht pünktlich ist, muss sie an einem anderen Tag wiederkommen.
Das klingt aufwendig, doch ist das Werk gerade wegen dieses strengen Timings eine kleine Sensation. Mit seiner konzentrierten Kürze schenkt es ein winziges Stück Echtzeiterleben, das sich in meiner Vorfreude und später im Nachsinnen noch weiter ausdehnt. Angesichts des uns umgebenden Endlosstroms von jederzeit abspiel- und wiederholbarer gespeicherter Wirklichkeit ist das etwas sehr Kostbares.
„Es ist nur einmal live – verpass es nicht“: Der Werbeslogan für einen neuen Sport-Kanal, den ich im Vorbeifahren sehe, erscheint mir darum wie ein Kommentar zu Philipsz' liebevoller Hommage an Rosa Luxemburg.
Mit dem ersten Glockenschlag
Es ist Schlag 12 Uhr, ich stehe im Hof des KW Institute for Contemporary Art, und mit dem ersten Glockenton der nahe gelegenen Sophienkirche erklingt auch Susan Philipsz' helle, sanfte, wie an sich selbst gerichtete Stimme aus einem unauffälligen weißen Megafon. Bescheiden mischt sie sich unter die Geräuschkulisse des öffentlichen Raums.
Unter das kollektive Murmeln der wenigen BesucherInnen, die hier auf Einlass in die Ausstellungen warten und die jetzt ihre Maskengesichter überrascht in Richtung Lautsprecher wenden; unter das Vogelgezwitscher in den kahlen Birken und Obstbäumen und das Klacken der Schritte und Rauschen der Autos draußen auf der Auguststraße.
Leicht melancholisch durchzieht das Rosa-Luxemburg-Lied den Innenhof, dieses „sister-piece“ zur Internationalen, wie Philipsz es nennt. Auf Englisch gesungen im klaren, warmen, schottisch eingefärbten Ton der Künstlerin klingt es wie ein Folksong: „Stand up and fight/ we have a score to settle/ stand up and fight/ we have a war to win.“
Winzige Unebenheiten
Manchmal reibt sich die Stimme kaum merklich an den Tonhöhen oder sie rutscht einen Hauch zu schnell der abfallenden Melodie voraus. Doch diese winzigen Unebenheiten verstärken nur den anrührenden Eindruck von Behutsamkeit und Verletzlichkeit und Intimität, den die Stimme übermittelt. Und damit verstärkt sich auch das Entsetzen über die unglaubliche Brutalität, mit der der Mord an Rosa Luxemburg verübt wurde.
Das von Philipsz so persönlich gesungene Kampflied der internationalen Arbeiterbewegung entstand nach den Morden an Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919: als selbstbewusste Aneignung eines bekannten Soldatenlieds aus dem Ersten Weltkrieg, in dem die Anrede „Kaiser Wilhelm II.“ durch die Namen der beiden Ermordeten ersetzt wurde. Dass dieses Lied dann 1930 von der SS zu ihren Zwecken umgedichtet wurde, belegt seine historische Brisanz.
Wie schön, dass Susan Philipsz in diesem „battle of the song“ mit ihrer ganz privaten Würdigung Rosa Luxemburgs ein letztes Wort behält. Dass Philipsz' Gesang so bewegend und überzeugend klingt, mag auch daran liegen, dass dieses Lied die Künstlerin seit ihren frühen Studentinnentagen begleitet: Mit Anfang zwanzig sang sie es in Glasgow auf Demonstrationen gegen Magaret Thatchers ultraharte Politik.
Leise Intervention
2002 dann, während einer einjährigen Residency im KW, unternahm sie eine „Pilgerfahrt“, wie sie es nennt, zu Rosa Luxemburg. Sie suchte ihre Gefängniszelle auf, setzte sich still in eine Hotellobby nahe dem nicht mehr existierenden Hotel Eden, in dem Rosa an jenem Januarabend von Angehörigen der Garde-Kavallerie-Schützen-Division verhört und bewusstlos geschlagen, mit einem Schläfenschuss getötet und in den Landwehrkanal geworfen wurde.
Als Antwort auf Luxemburgs Leidensweg sang die Künstlerin zu Hause im KW noch einmal das alte Kampflied und zeichnete es auf. Dann öffnete sie ein Fenster, stellte zwei kleine Lautsprecher auf die Fensterbank und schickte die Tonaufnahme als leise Intervention in die Auguststraße.
Nun ist diese wunderschöne Arbeit nach fast zwanzig Jahren erstmals offiziell am Ort ihrer Entstehung installiert. Susan Philipsz versteht ihr Werk als Überraschung für die Menschen, die in diesem idyllischen Innenhof ihre Lunchbox verspeisen; oder für die PassantInnen und die, die zum Kunstschauen hier her kommen. Ihnen allen schenkt die bloße Stimme, dieses älteste Medium der Menschheit, eine Zäsur im Arbeitsalltag.
Und tatsächlich hört sich die Stille nach dem Lied anders an als zuvor: tiefer und gesättigter. Die Töne und Geräusche, aus denen sie nach John Cage ja besteht, sind nicht mehr zerfasert und verstreut, sondern wie durch Magie verbunden. Alles fügt sich zu einer lautlichen Form, zu einem Rhythmus, zum Bestandteil einer Erzählung, die persönlich ist, historisch und auch sehr aktuell.
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