Neues Hörspiel zum NSU-Prozess: Eintauchen in den Schrecken

Dem Hörspiel „Saal 101“ gelingt gesellschaftspolitisch ein echter Wurf. Es liefert keine Einordnung, sondern lädt ein, sich ein Urteil zu bilden.

drei Frauen sitzen hinter einem Pult

Witwe Adile Simsek (Mitte) am 402. Verhandlungstag im NSU-Prozess Foto: Sebastian Widmann/ imago

Mit „Saal 101“ ist den koproduzierenden ARD-Hörspielredaktionen unter Federführung des Bayerischen Rundfunks ein echter Wurf gelungen. Inhaltlich, ästhetisch und vor allem gesellschaftspolitisch. In dem 12-stündigen Dokumentarhörspiel geht es um nichts weniger als die Aufarbeitung der Protokolle des NSU-Prozesses, die von verschiedenen ARD-BeobachterInnen über die fünfjährige Dauer des Verfahrens angefertigt wurden.

Es sind die einzigen Dokumente dieses Prozesses gegen die rechtsterroristische Gruppe, denn Video- und Audioaufzeichnungen existieren nicht. Das Hörspiel macht öffentlich zugänglich, was angesichts der zunehmenden rechten Gewalt nicht in Vergessenheit geraten darf. Die 1.000 Ordner umfassenden Schriften lagern im Schallarchiv des BR, dessen Leiter 2014 auf sie aufmerksam machte. Chefdramaturgin Katarina Agathos erkannte in ihrer Frage-und-Antwort-Struktur ihre Hörspieltauglichkeit und übersetzte die Texte zurück ins Mündliche – in Zusammenarbeit mit einem künstlerischen und juristischen Expertenteam.

„Der Prozess als Textmaschine“, so ist ein Werkstattbericht des Produktionsteams überschrieben. Und tatsächlich montierten sie das Skript in philologischer Kleinstarbeit zum Teil aus Halbsätzen, verbanden Berichte über Zeugenaussagen mit Prozess- und Personenbeschreibungen und filterten die verhandelten Themenkomplexe heraus.

Die Abfolge der Episoden ist nicht chronologisch, sondern inhaltlich geordnet. Der erfahrene Hörspiel-Regisseur Ulrich Lampen überlässt die nüchterne Protokoll-Sprache den sehr prägnanten SprecherInnen, die er mit glücklicher Hand besetzt hat (Bibiana Beglau, Katja Bürkle, Florian Fischer, Thomas Thieme u. a.). Sie verkörpern nicht je eine Figur, sondern mehrere, und so widersetzt sich die Inszenierung einer Fiktionalisierung der Protokolle.

Ein Sprachsog, der eintauchen lässt

Die Stimmen geben vielmehr den Worten Gestalt und erzeugen einen Sprachsog, der die Hörerin von Minute zu Minute wacher in diese schreckliche Welt eintauchen lässt: „5 Jahre und zwei Monate wird der sogenannte NSU-Prozess dauern. Doch im Gerichtssaal gelten andere Kriterien als das Vergehen der äußeren Zeit“, heißt es irgendwann. Unter Lampens gekonnter Stimmführung wird eine ausbalancierte Spannung zwischen Distanz und Nähe erzeugt, zwischen Kühle und Wärme und damit ein Raum, in dem Fassungslosigkeit und Erschütterung Platz haben.

„The Return of the Real“ hieß ein einflussreiches Buch, das der Kunstwissenschaftler Hal Foster vor 30 Jahren herausbrachte. Das im Titel anklingende Versprechen wurde vom internationalen Kulturbetrieb mit Erleichterung aufgenommen: Wie viel Stoff schien jenseits des postmodern Subjektiven, Abschweifenden, ichbezogen Verspielten zu liegen, das nach dem Ende der letzten Doku-Welle der sechziger und siebziger Jahre die Kunstproduktion dominiert hatte. Seit Mitte der neunziger Jahre wird die Wirklichkeit wieder künstlerisch erschlossen und teils leider auch bloß vampiriert. Umso schöner das neue Werk in dieser Tradition.

Ganz ohne emotionalen Verstärker

„Saal 101“ gelingt es, die Reflexionsarbeit an die Hörerin abzugeben, indem es die Zeitgenossin ganz ohne emotionalen Verstärker zur engagierten Prozessbeobachterin macht. Das ist eine große Leistung. Andere Zeiten hatten andere ästhetische Formen des Umgangs mit historisch und gesellschaftlich relevanten Prozessakten. So klingt in den langen Stunden, die man im Hörraum von „Saal 101“ verbringt, auch „Die Ermittlung“ nach, Peter Weiss’ Dramatisierung der Protokolle des ersten Frankfurter Auschwitz­pro­zes­ses (1963 bis 1965).

Weiss fasste sein Material in 11 oratorische Gesänge und überhöhte es künstlerisch. Ein Verfahren, das Weiss-Kennerin Agathos in diesem Fall nicht einsetzen wollte. Während Weiss den Fokus auf das Universale des Ungeheuerlichen richtet, nehmen Agathos und ihr Team das Spezifische der NSU-Verbrechen und des gesellschaftspolitischen Umfelds in den Blick, in dem diese möglich sind.

Gefragt, warum dieses Stück nicht als Feature, sondern als Dokuhörspiel produziert wurde, verweist Agathos auf einen Aspekt des Genres, der zu seinen großen Stärke zählt: Es liefert keine Einordnung, hat keine Mittler. Es sprechen allein die Quellen und verpflichten die Hörerin zur Urteilsbildung.

BR 2, hr 2, MDR, NDR, rbb, SR2, SWR 2, WDR 5 und DLF:

19. 2., 20.05 Uhr bis 2 Uhr

(Teile 1 bis 12)

20. 2.,20.05 Uhr bis 2 Uhr

(Teile 13 bis 24)

Radio Bremen:

19. 2., 20.05 Uhr bis 23 Uhr. Danach in weiteren Blöcken.

Ab 19. 2. verfügbar in der ARD-Audiothek, auf BR-­Pod­cast sowie als Hörbuch mit 12 CDs, der Hörverlag, 45 Euro.

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