„Weiter Himmel“ von Kate Atkinson: Erfahrungen mit dem Bösen

Die Krimi-Autorin Kate Atkinson hat den fünften Jackson-Brodie-Fall veröffentlicht. Darin wollen alle Protagonisten ihre Vergangenheit vergessen.

Ein Mann recht eine Sandfläche in einem Loch im Golfplatz

Wer vermutet auf dem Golfplatz schon das Böse? Drei Golf-Freunde betreiben einen Frauenhändlerring Foto: Peter Byrne/dpa

Kaum etwas ist in diesem Roman, wie es scheint; kaum jemand, was er oder sie zu sein vorgibt. Einzig Bunny, der kahlköpfige Mittfünfziger, der im abgerockten Palace-Theater im englischen Küstenstädtchen Bridlington die glitzernde Dragqueen gibt, betreibt sein Doppelleben offen und ehrlich.

Alle anderen wollen entweder ihre Vergangenheit vergessen oder ihre Gegenwart verschleiern. Und der Privatdetektiv sowie Ex-Cop Jackson Brodie, der sein Geld mittlerweile überwiegend mit der Beschattung untreuer Eheleute verdient, gerät wieder einmal reichlich zufällig hinein in ein großes Durcheinander.

Es ist der fünfte Jackson-Brodie-Fall aus der Feder von Kate Atkinson, die sowohl zur ersten Riege der Kriminalautorinnen der Gegenwart zählt als auch darüber hinaus eine Schriftstellerin ist, die immer wieder für Überraschungen gut ist. So hat Atkinson etwa den Spionageroman in lässig feministischer Weise neu interpretiert („Deckname Flamingo“, Dt. 2019) oder das Genre des biografischen Romans mithilfe eines raffinierten metafiktionalen Verfahrens verfremdet („Die Unvollendete“, Dt. 2015).

Auch ihre Krimis sind weit mehr als Spannungsliteratur. Vor allem verwendet Atkinson das Genre dazu, zu zeigen, dass mit der Welt etwas ganz grundsätzlich nicht stimmt: dass niemand vor dem Bösen jemals wirklich sicher ist, dass es oft näher ist, als wir denken, und dass es sich andere Menschen als Wirtstiere sucht. Dagegen hilft nur ein gesunder Stoizismus, ergänzt durch etwas, das mit „grimmiger Humor“ vielleicht annähernd beschrieben wäre.

Ein unerkannter Held

Atkinsons Jackson Brodie, durch mannigfaltige Erfahrungen mit dem Bösen im Menschen schon reichlich abgeklärt, ist also so etwas wie der große Stoiker unter den Detektiven. Er ist ein unerkannter Held, dessen Taten niemals genügend Würdigung erfahren, der selten das Glück hat, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, und dessen Privatleben nie aufhört, kompliziert zu sein. Doch Jackson, der nicht an Zufälle glaubt, ist hartnäckig, physisch hart im Nehmen und mental bis ins Mark durchdrungen von dem Impetus, das Richtige zu tun.

Kate Atkinson: „Weiter Himmel“. Aus dem Englischen von Anette Grube. DuMont Buchverlag, Köln 2021. 480 S., 24 Euro

Jackson Brodie ist nur eine von mehreren Hauptfiguren in „Weiter Himmel“, einem komplexen Drama um menschliche Abgründe, menschliche Anständigkeit und alle Schattierungen dazwischen.

Atkinson beleuchtet es von verschiedenen Seiten: zum Beispiel aus der Sicht von Vince, einem Mann mittleren Alters, der gerade viel Pech im Leben hat und dann auch noch zufällig mitbekommt, dass seine drei Golffreunde Tommy, Andy und Steve, nach außen hin angesehene bürgerliche Existenzen, einen Frauenhändlerring betreiben.

Dunkle Vergangenheit

Auch Crystal, die attraktive Ehefrau des skrupellosen Tommy, die selbst auf eine dunkle Vergangenheit zurückblickt, ahnt nicht, womit ihr Mann, der eine Spedition betreibt, in Wahrheit sein Geld verdient. Und Andy, der als Tommys Mr. Nice Guy arglose menschliche Ware am Flughafen abzuholen pflegt, fühlt zwar ab und zu matte Gewissensregungen, ist jedoch erst in der Lage, ihnen nachzugeben, als es längst zu spät ist.

Dieser Welt der glatten bourgeoisen Oberfläche über den gewalttätigen Abgründen hält Atkinson einen metaphorischen Spiegel entgegen in Gestalt jener eigentümlichen Badeort-Parallelwelt, in der Tommys verträumter halbwüchsiger Sohn Harry seine Sommerjobs betreibt: zum einen als Kartenverkäufer in der Geisterbahn, wo er die Draculamaske anziehen muss, wenn der als Erschrecker eingestellte Kollege nicht zum Dienst erscheint.

Und zum anderen als Laufbursche im trashigen Palace-Theater, in dem auch ein notorischer Kinderschänder – aber dass er einer ist, weiß niemand außer ihm selbst – auftritt, der das zahlende Publikum mit unterirdischen Witzen unterhält.

Gleichzeit komisch, traurig und tröstlich

Das Ganze ist komplex, oft auf bissige Weise komisch, gleichzeitig auf vielfältige Weise traurig, aber ebenso oft auch wieder tröstlich. Denn neben den Bösen sowie den Schwachen, die sich den Bösen unterordnen, gibt es bei Atkinson auch die anderen: die Starken, die Unbeirr- und Unkorrumpierbaren, zu denen auch die Unscheinbaren gehören, die nur nie zeigen konnten, was in ihnen steckt.

Spannung entsteht auch dadurch, dass man sich nie hundertprozentig sicher sein kann, ob das Böse nicht doch die Oberhand gewinnt. Wenn es aber unterliegt, so sorgt die Autorin oft für einen zusätzlichen Bonus, der darin liegt, dass am Ende oft eine eher außerstaatliche Idee von Gerechtigkeit obsiegt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.