Romane „Nordwestwärts“ und „Vogelpark“: Einmal Emlichheim und zurück
Der Berliner Autor Tobias Schwartz siedelt seine Romane in der niedersächsischen Provinz an. Er zeigt, wie im Konkreten das Universelle liegt.
Wo das Auge hinreicht: Kartoffeln. Irgendwo am Horizont die größte Kartoffelstärkefabrik Europas. Dazwischen Pumpen, die Erdöl aus der Tiefe des sandigen Bodens fördern. In diese Gegend, Emlichheim in der Grafschaft Bentheim, kehrt der Kinderarzt David zurück: „Nordwestwärts“, der 2019 erschienene erste Teil der Emlichheim-Reihe von Tobias Schwartz, erzählt einen Tag dieser zeitweiligen Rückkehr.
David fährt morgens mit dem Zug quer durch Deutschland, um abends ein Konzert zu geben, mit seiner Tante. Dabei bietet seine Reise nach und durch Emlichheim eine Resonanzfläche für Erinnerungen: an seine Jugendliebe Grete vor allem, die hochschwanger ist, die Geburt steht kurz bevor. Sein Kind könne es nicht sein, denkt David, das hätte Grete ihm doch gesagt.
Die Geschichte ist multiperspektivisch erzählt, geht auch mal zurück zu Kindheitserlebnissen von David und Grete oder gar ans Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Buch wechselt rapide zwischen insgesamt rund 20 Perspektiven, manchmal gibt die jeweilige Sicht nur einen Satz her, bevor schon wieder gesprungen wird. Für Textstellen in Platt gibt es dankenswerterweise Fußnoten mit Übersetzungen ins Hochdeutsche.
Obwohl Emlichheim aufgrund dieses vielstimmigen Formats so etwas wie der heimliche Star von „Nordwestwärts“ ist, liefert den roten Faden die Frage der Vaterschaft. Die Geschichte von Davids Familie und die Geschichte der Region scheinen unauflöslich verbunden mit diesem Tag, mit der Frage, die David die ganze Länge des Buches vor sich herschiebt: Ist er Vater – und will er einer sein? Ganz zu Anfang träumt er von einem Schwanenei, „und plötzlich übermannte ihn im Schlaf die traumhafte Gewissheit: Grete … hatte dieses Ei gelegt“. Schon hier wird also die Thematik geöffnet, die David aber lange verschlossen bleibt.
Schwartz, Jahrgang 1976, ist wie sein Protagonist in Emlichheim aufgewachsen. Trotz der vielen Sprünge zwischen Jetzt und Damals, zwischen zentralen und Nebenfiguren, behält er stets die Kontrolle über die Erzählung. Dabei schreibt er klar und präzise – nicht nur in den Dialogen. Die sind vielerorts gelobt worden, und das gern unter Hinweis aufs Theater, für das Schwartz schon viel geschrieben hat.
Für ihn sei die Theaterwelt nur ein Intermezzo gewesen, sagt er dagegen selbst: Schwartz startete als Prosa-Autor, machte dann für viele Jahre Theater und ist nun zurückgekehrt, könnte man sagen. Auf literarischer Ebene tut der Wahlberliner also mit der Rückkehr in die Grafschaft das, was auch sein Protagonist David tut. Beide Rückkehren sind gelungen: Auch wenn der Spannungsbogen zu Anfang vielleicht ein wenig plump gezogen wird, schafft es die Erzählung danach, ohne krude Tricks auszukommen, dafür mit großer Kenntnis von Menschen und Sprache.
Diese sprachliche Klarheit setzt sich auch im zweiten Roman der designierten Trilogie fort: In „Vogelpark“ (2020) hütet der neunjährige Jonas im großen Garten seines Elternhauses Hühner, Fasane, Enten und andere Vögel. Er liest seine ornithologische Enzyklopädie und träumt von besonders schönen Exemplaren. Verglichen mit „Nordwestwärts“ ist „Vogelpark“ simpel gehalten und beinahe stur aus Jonas’ Perspektive erzählt, in der dritten Person, chronologisch. War der Vorgänger ein Panorama, ist dieser Roman eine Nahaufnahme.
So blickt man also mit Jonas auf die gescheiterte Ehe der Eltern, Asthmaattacken und auf seine Angst vor den Nachbarsjungen. Diesmal ist der Vater nicht abwesend, sondern gewalttätig, dem Alkohol verfallen und stinkend. Und weil die Ehe im Eimer ist, aber alle noch im selben Haus wohnen, wohnt der Vater oben, der Rest der Familie im Erdgeschoss.
In beiden Büchern suchen Männer sich aus ihrer Verantwortung zu lavieren – der eine kontempliert einen symbolischen Tag lang, ob er Vater sein will, während nebenan gerade unter Schmerzen ein Kind geboren wird von einer Frau, die also ganz andere Sorgen hat. Überhaupt, Frauen: Die steuern hier ihre Geschicke selbst, dabei sind sie keine Göttinnen, sondern durchaus Bedingungen ausgesetzt – aber eben nicht ausgeliefert. Und anders als die Männer sind sie proaktiv, nutzen die Situationen, wie sie sich bieten.
Tobias Schwartz: „Nordwestwärts“, 2019, 264 S., 22 Euro;
„Vogelpark“, 2020, 192 S., 22 Euro, beide Elfenbein-Verlag Berlin
Kein Wunder, dass sich Jonas an seine Mutter oder Ersatzoma Gerda hält und nicht an seinen Vater. Der signalisiert seine An-/Abwesenheit meist durch das Bett, das quietscht, wenn eine neue Frau zu Besuch ist. Dann jätet die Mutter im Garten das längst nicht mehr vorhandene Unkraut. In einer unschuldigen Parallele dazu ist Jonas in eine Freundin seiner Schwester verliebt. Auch die Schwester flieht vor dem familiären Chaos: Sie spielt wie besessen Klavier.
In „Nordwestwärts“ wiederum ist David ein sehr begabter, aber auftrittsscheuer Cellist. Anderes Bild also: „Nordwestwärts“ ist der erste Satz, ein Allegro, schnell und lebhaft. „Vogelpark“ hingegen ist der zweite Satz, der entschleunigte, sich Zeit nehmende. Im Frühherbst 2022 will Schwartz den dritten Satz folgen lassen, eine Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel „Landkrank“. Es soll das Scherzo sein, sagt Schwartz: gewitzt und schnell. Ganz am Ende wird dann noch mal ein großer Roman stehen, als Finale einer – im besten Falle – Literatur-Symphonie über Niedersachsens tiefen Westen.
An den Büchern erkennt man Schwartz’ lebenslange Auseinandersetzung mit den ersten zwanzig Jahren seines Lebens. Die Geschichten sind dabei nicht unbedingt autobiografisch. Er erzählt, was ihm bekannt ist, und flicht eigene Erfahrungen hinein. Die Auseinandersetzung mit Vater- und Mutterschaft, Liebe, der Frage, wo wir herkommen und auch das Leben auf dem Land: Themen, die in der niedersächsischen Provinz beheimatet sind und darüber weit hinausgehen.
Herausragend sind die Bücher in jenen kleinen Momenten, die – ohne die Themen explizit zu benennen, ja: gerade weil sie die Themen nicht explizit benennen – Anschluss bieten für allgemeingültige Erfahrungen. Das kann das leidenschaftliche Einer-Tätigkeit-Nachgehen sein wie bei Jonas. Oder der Kampf, sich im Fremden ein Zuhause aufzubauen. Schwartz zeigt so, dass gerade im Konkreten das Universelle liegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!