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Letzter sowjetischer Präsident wird 90Meine Lehrjahre mit Gorbatschow

Als Michail Gorbatschow 1985 Generalsekretär der KPdSU wird, studiert unsere Autorin Slawistik in Hamburg. Ein Rückblick zu seinem 90. Geburtstag.

Gorbatschow bei einer Fernsehansprache am 1. Mai 1986 Foto: Peter Turnley Corbis/VCG/getty images

Frühjahr 1984. In einem Raum des Zentralen Fremdspracheninstituts der Universität Hamburg haben sich an diesem Tag nur ein paar versprengte Gestalten eingefunden. „Sie wollen wirklich Russisch lernen?“, fragt der Dozent und grinst. „Na ja, wohl alles Pessimisten hier …“ Wie richtig er damit liegen wird, können wir damals nicht einmal erahnen.

Denn zunächst kommt der 11. März 1985. Michail Gorbatschow wird mit 54 Jahren zum neuen Generalsekretär der KPdSU gewählt. Greise, die wie Juri Andropow und Konstantin Tschernenko in immer kürzeren Abständen auf diesem Posten ableben, sind Vergangenheit. Plötzlich bewegt sich etwas. Russische Klassiker, linguistische Finessen sowie der tägliche Kampf mit Fällen und Konjugationen werden zur Nebensache. Stattdessen lechzen wir alle nach politischen Nachrichten.

Der 27. Parteitag der KPdSU im Februar 1986 bereichert auch den Wortschatz der Deutschen: „Glasnost“ und „Perestroika“ – Begriffe, die Gorbatschows ambitioniertes Reformprogramm zusammenfassen, sind fortan in aller Munde.

Doch am 26. April macht Glasnost Zwangsurlaub. Im ukrainischen Tschernobyl explodiert der vierte Reaktor des Atomkraftwerkes. Der Kreml hüllt sich zunächst in Schweigen. 20 Jahre später: Um die Mittagszeit trifft der Kleinbus in Pripjat ein. Tagesausflüge in die Todeszone von Tschernobyl sind mittlerweile ein lukratives Geschäftsmodell. Während wir Jour­na­lis­t*in­nen mit anderen langsam durch die Geisterstadt rollen, erzählt der Fahrer, wie am Abend des 26. April 1986 Tausende hier zu einer Brücke gelaufen seien, um das Inferno aus nächster Nähe gut beobachten zu können. In einem nahe gelegenen Dorf berichtet eine alte Frau, dass damals kurz nacheinander ihre drei Söhne weggestorben seien. Ob das etwas mit Tschernobyl zu tun habe, wisse sie nicht …

„Improwisazija“ lautet das Gebot der Stunde

Im Herbst 1988 findet der erste Stresstest in Sachen Sowjetunion statt. 20 angehende Sla­wis­t*in­nen reisen zu einem Sprachkurs in Hamburgs Partnerstadt Leningrad (heute Sankt Petersburg). Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne, die ihm den spöttischen Namen „Mineralsekretär“ einbringt, beschert den Rus­s*in­nen zwar weniger Rausch, dafür aber eine zwei Jahre längere Lebenserwartung. Die rigide Verbotspolitik setzt eine ungeahnte Kreativität frei. „Improwisazija“ lautet das Gebot der Stunde. Babuschkas, die auf den Straßen Zucker verkaufen, wird die Ware fast aus den Händen gerissen.

Auf den Balkonen von Wohnungen wird Selbstgebrannter im Akkord hergestellt. Vor Kinos harren die Menschen aus, um eine Eintrittkarte für „Die kleine Vera“ zu ergattern – den ersten sowjetischen Sexfilm. Auch die tägliche Lebensmittelbeschaffung wird zum Abenteuer. Man steht an und weiß nicht, wofür. In dem 15-stöckigen Studentenwohnheim steckt der Lift mehr fest, als er fährt. Einige von uns wechseln nach ihrer Heimreise die Studienrichtung.

Wir anderen bleiben dran und fahren im Februar 1989 wieder zu einem Sprachkurs nach Leningrad. Auf den Fluren des Gornij-Instituts gibt es nur ein Thema: Politik. Im März stehen Wahlen zum Volksdeputiertenkongress an, erstmals stehen für einen Sitz mehrere Kan­di­da­t*in­nen auf den Stimmzetteln. Statt zur Arbeit zu gehen, hocken viele Rus­s*in­nen zu Hause stundenlang vor dem Fernseher und werden mit ungläubigem Staunen Zeu­g*in­nen ihnen bislang unbekannter kontrovers geführter Debatten.

Auch der Dissident und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow, den Gorbatschow nach sechsjähriger Verbannung 1986 zurück nach Moskau geholt hat, wird in den Volksdeputiertenkongress gewählt. Als Sacharow auf einer Sitzung die Abschaffung von Artikel sechs der sowjetischen Verfassung fordert, der die Führungsrolle der Kommunistischen Partei festschreibt, lässt ihm Gorbatschow das Mikrofon abstellen.

Am 12. Juni 1989 kleben Millionen Deutsche an den Bildschirmen. Gorbatschow reist mit seiner Frau Raissa zum ersten Mal in die Bundesrepublik. Mit „Gorbi, Gorbi“-Rufen wird er gefeiert wie ein Popstar. Die sind auch bei seinem Auftritt in Ostberlin am 7. Oktober 1989 anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR zu hören. Es ist die letzte pompöse Feier dieser Art. Am 9. November fällt die Mauer.

1990 wird Gorbatschow mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Doch dieser – bis heute ungebrochenen – Wertschätzung auf internationalem Parkett steht eine wachsende Ablehnung Gobatschows in seiner Heimat gegenüber. Der „Wind of Change“ wird zu einem Sturm, der auch ihn alsbald hinwegfegen wird.

Die Bilder lösen zwiespältige Gefühle aus

Am 18. August 1991 und damit kurz vor der Unterzeichnung eines Vertrages, der dem implodierenden Unionsstaat neues Leben einhauchen soll, wird Gorbatschow in seiner Residenz Foros auf der Krim festgesetzt. Der Putschversuch von Altkommunisten in Moskau ist nach drei Tagen beendet – dank Boris Jelzin, erstem gewählten Präsidenten der Russischen Föderation. Ebenjener Jelzin unterbricht am 23. August vor laufender Kamera Gorbatschows Rede in der Versammlung des Obersten Sowjets und unterzeichnet ein Dekret über das Verbot der Kommunistischen Partei in Russland. Für Gorbatschow, das letzte Oberhaupt der Sowjetunion, ist das die ultimative Demütigung. Diese Bilder lösen zwiespältige Gefühle aus: einerseits Verwunderung, dass die Sowjetunion, gedacht für die Ewigkeit, von der politischen Landkarte verschwunden ist. Andererseits Angst vor dem, was jetzt kommen wird.

Barbara Oertel

Barbara Oertel studierte Politik und Slawistik in Hamburg und St. Petersburg. Seit 1995 ist sie bei der taz, ihr Arbeitsschwerpunkt ist Osteuropa.

Am 8. Dezember 1991 stellt Boris Jelzin mit dem Belarussen Stanislaw Schuschkewitsch und dem Ukrainer Leonid Krwatschuk auf einer Staatsdatscha im Urwald von Beloweschsjaka nahe der polnischen Grenze der UdSSR den Totenschein aus. In der Präambel des Vertrages heißt es: „Die Sowjetunion als Subjekt internationalen Rechts und geopolitischer Realität hat aufgehört zu existieren.“

Am 25. Dezember 1991 verliest Gorbatschow im Fernsehen seine Rücktritterklärung und sagt: „Unsere Völker werden in einer blühenden und demokratischen Gesellschaft leben.“ Fünf Tage später um Mitternacht wird die rote Fahne auf dem Kreml eingeholt und die russische Trikolore gehisst.

August 2008: Nach einem fünftägigen Krieg gegen Georgien übernimmt Russland die Kontrolle über die Region Südossetien. Russische Truppen stehen 30 Kilometer vor der georgischen Hauptstadt Tiflis. Wir Jour­na­lis­t*in­nen bemühen uns durch die Checkpoints zu kommen. „Wir verteidigen hier unsere Heimat“, sagt ein junger russischer Soldat aus Rostow am Don, bevor er von seinem Vorgesetzten zurückgepfiffen wird. Der stiert mit glasigem Blick vor sich hin und hält mir eine Pistole an den Hals. „Verschwinde, du Fotze. Ich kann dich einfach abknallen. Du wirst nicht die Erste und auch nicht die Letzte sein!“ Im Zentrum von Tiflis halten Menschen Plakate in die Höhe. Darauf steht: „Prag 1968, Tiflis 2008!“

Er hat etwas gewagt in seinem Leben

Auf dem Rückflug Zwischenstopp in Kiew. Von dort geht es weiter auf die Krim. In Sewastopol werden bereits russische Pässe verteilt, wovon Vertreter der Stadtverwaltung jedoch nichts wissen wollen. Eine Ukrainerin, die am Hafen ein kleines Hotel betreibt, ist bereits dabei, ein paar Sachen zusammenzuräumen. Sie habe Angst, sagt sie.

Im März 2014 übernehmen russische Truppen die Macht auf der ukrainischen Halbinsel. Gorbatschow, der in der Vergangenheit mit Kritik auch an Wladimir Putin nicht gespart hat, schwingt sich zu dessen Verteidiger auf. „Ich bin absolut überzeugt, dass Putin heute besser als jeder andere die Interessen Russlands verfolgt. Es gibt natürlich in seiner Politik etwas, das kritisierbar ist. Aber ich will dies nicht tun, und ich will auch nicht, dass jemand anderes dies tut“, sagt er der russischen Nachrichtenagentur Interfax im November 2014 kurz vor einem Besuch in Berlin.

An diesem Dienstag wird Gorbatschow 90 Jahre alt. Was bleibt? Er hat etwas gewagt in seinem Leben. Allein dafür zolle ich ihm Respekt.

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9 Kommentare

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  • „An diesem Dienstag wird Gorbatschow 90 Jahre alt. Was bleibt? Er hat etwas gewagt in seinem Leben. Allein dafür zolle ich ihm Respekt“



    Ich auch.



    Nun zum Kontrastprogramm: Wer mal lesen will, wie Gorbi nach Strich und Faden mißlobt werden kann, dem empfehle ich die „Junge Welt“ (JW), ehemals Propagandaorgan der DDR-Jugendorganisation FDJ: www.jungewelt.de/a...l?sstr=Gorbatschow



    Im Beitrag geht es zwar darum, wie die DDR-Partei- und Staatsführung das Verhältnis DDR – VR China verbessern wollte, aber vor allem darum, wie Gorbatschow ständig und immerzu dazwischen grätschte. Dem Autor, Hans Modrow (letzter DDR-Ministerpräsident) kann ich nur zurufen: „Nichts vergessen - und nichts dazugelernt!“

  • Der große Bluff

    An diesem 90. Geburtstag von M. Gorbatschow sei an dessen wiederholte Warnungen vor dem Wiederaufflammen des Kalten Krieges erinnert, der jeden Moment in einen heißen, atomaren umschlagen könne: "Wenn angesichts dieser angeheizten Stimmung einer die Nerven verliert, werden wir die nächsten Jahre nicht überleben." Dem wird hierzulande keine weitere Beachtung geschenkt, outet sich doch der Träger der Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland - Undank ist der Welten Lohn - schlecht verhüllt als „Putin-Versteher“, d. h. als russischer Politiker, der sich um die Sicherheit seines Landes sorgt. Das dürfte allerdings auch sein Grundmotiv gewesen sein, als er vor 30 Jahren dem Okzident die Hand reichte, um mit strategischen Vorleistungen die Ost-West-Konfrontation aufzubrechen, was dem Westen immerhin der Friedens-Nobelpreis wert war.

    Dabei zögert er nicht, die Schuld an dieser brandgefährlichen Situation unumwunden dem Westen zuzuweisen, genauer seiner seit Ende der UdSSR verfolgten Ost-Europa-Politik in siegesberauschter Umdeutung des Epochenwechsels: „Doch anstatt neue europäische Sicherheitsinstitutionen aufzubauen und die Entmilitarisierung Europas voranzutreiben – wie es die NATO-Mitgliedsstaaten in der Londoner Erklärung von 1990 versprochen haben – erklärte sich der Westen, allen voran die Vereinigten Staaten, zum Sieger. Euphorie und Triumphalismus sind den westlichen Staats- und Regierungschefs zu Kopf gestiegen. Sie haben die Schwäche Rußlands und das Fehlen eines Gegengewichts ausgenutzt, um ein Monopol auf die Führung in der Welt zu erheben und sich geweigert, diesbezügliche Warnungen ernst zu nehmen.“ (Spiegel-Interview, 2/2015)

    Gorbatschow sieht sich an seinem Lebensabend nach dem innenpolitischen Scheitern seiner Perestroika-Politik nun auch noch vor dem Scherbenhaufen seiner Friedens- und Entspannungspolitik. Er mußte nun einräumen, daß Rußland von Washington abermals über den Tisch gezogen wurde.

    • @Reinhardt Gutsche:

      Wo, wie und wann wurde Russland militärisch über den Tisch gezogen? Ich kann da nix entdecken.



      Und bitte nicht vergessen: die Sowjetunion bestand aus 15 Sowjetrepubliken, nicht nur aus Russland. Gorbatschow sprach für die alle zusammen, nicht nur für Russland. Russischer Präsident war er nie.



      Und dann gibt es da noch die OSZE-Schlussakte über die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa, die alle 15 ehemaligen Sowjetrepubliken bestätigt und bekräftigt haben, auch Russland. Ein Nachfolgestaat hält sich jedoch nicht daran: Russland.

  • Danke

    Michail Gorbatschow galt in Amtszeit als KPdSU Generalsekretär ab 1985, in Personalunion Staatspräsident wachsend als gefeiert Großer Kommunikator auf internationalem Parkett und doch ereilte mit ihm UdSSR, Staatengemeinschaft Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon), Warschauer Verteidigungsbündnis sog. Seneca Effekt, Implosion global hochkomplexen Vernetzungssystems mit ungezählten Verknüpfungspunkten über Eisernen Vorhang hinaus, in Schüben durch „nachrangige“ Ereignisse, beginnend Ölpreiskrise 1973, nachdem US Präsident Nixon 1971 Bretton Wood Weltwährungsabkommen 1944 aufgekündigte, $ vom Goldpreis entkoppelte, nach überbordender Staatsverschuldung aufgrund Vietnamkrieg Kostenlawine, US Schulden durch$ Abwertung zulasten Dritter zu tilgen, UdSSR längst bei Gas-, Ölexport global unterwegs war, Devisen zu generieren, 1973 Comecon Ländern, abrupt Gas-, Ölpreissubvention entzog. 1986 entzog Tschernobyl GAU global Kreditwürdigkeit in Gorbatschows Glasnost, Perestroika Projekt, statt global militärischer, ziviler Nutzung Atomindustrie, ohne dies weder in UdSSR noch in Nato Staaten kenntlich machen zu wollen. Nach Irak-Iran Krieg Ende 1988, Rückzug Roter Armee 1989 aus Afghanistan, sank Gas-, Ölpreis markant zulasten gas-, ölproduzierender Länder, UdSSR Devisenbestand. Dass Gorbatschow Januar 1991 KGB Beratern folgte, Start 17.1. größter Militärkoalition seit 1945, an der Rote Armee nicht beteiligt war, Kuwait von Saddam Husseins Invasionstruppen zu befreien, für schnelle Militärintervention Roter Armee in Baltikum Ländern zu nutzen, Unabhängigkeitsbestrebungen im Keim zu ersticken, scheiterte, Gorbatschows rätselhaftes Agieren während KGB Militärputsch August 1991 gegen ihn, bewirkt Verlust restlicher Kreditwürdigkeit. Als Krücke über Deutschland doch an Milliarden DM Devisen gelangen, blieb Gorbatschow gegen massiv inneren Widertand seiner Berater, darunter Valentin Fallin, nur noch Deutsche Einheit 3.10.1990 im Geschwindschritt, zu befürworten.

  • Vielleicht sollte man nicht uebergehen, dass nicht alle Laender unter seinem Regime so viel Glueck hatten wie die DDR. Im Januar 1991 kostete der Blutsonntag in Vilnius 14 Menschen das Leben, teils ueberrollt von sowjetischen Panzern oder erschossen; ueber 1000 Verletzte. Hier ist von Verehrung fuer Gorbatschow keine Spur.

    • @Charlie Foxtrot:

      Eine sehr selektive Auswahl.

      Der spätere Liebling des Westens war bei weitem nicht so zimperlich:

      www.dw.com/de/mosk...rlament/a-45730095

      Die Quelle DW dürfte ja wohl nicht unter Verdacht stehen, besonders Russlandfreundlich zu berichten.

    • @Charlie Foxtrot:

      Man sollte niemanden verehren, aber auch bei Politikern sollte an eine Gesamtbilanz ihrer Handlungen aufstellen und da geht die Waagschale bei Gobatschow auf die positive Seite.

      Nur 14 Tote bei einem Aufstand gegen das Imperium? In den USA nennt man sowas Frühstückspause.

      • @Adele Walter:

        und @KHALED CHAABOUTÉ

        Klassischer Whatsaboutism. Inhaltlich - zero.

        • @Charlie Foxtrot:

          Das nennt man historische Differenzierung.

          Aber Sie haben Recht. Alle böse, keiner gut.

          Einfach genug?