Wasserkraftwerke in Flüssen: Wenn Öko Natur zerstört
Strom aus Wasserkraft gilt als nachhaltig. Doch in Bayern zerstören 4.000 kleine Werke den Lauf der Flüsse. Der Natur tut das gar nicht gut.
D ie Windach windet sich um die Kurve, schmirgelt mit jedem Liter das lehmige Ufer und vertieft die zwei, drei Meter hohen Steilhänge. Links liegt ein Acker, der schon ein paar Meter an den Fluss verloren hat, am rechten Ufer zieht sich ein Laubwald den Hang hinauf. Rund 20 Kilometer nach ihre Quelle westlich des Ammersees hat die Windach so viel Schwung gewonnen, dass die mitgebrachten Steine, Kiesel und der Sand sich in der Mitte des Flusses zu einer Kiesbank gesammelt haben, von zwei Armen Wasser umflossen.
„Ein schönes Furkationsgerinne“, sagt Markus Brandtner über die wildgewordene Windach kurz vor dem Ort Windach in Oberbayern, dort wo sich der Fluss auf gut einem Kilometern in neuer Freiheit teilt und vereint und das macht, was die Flüsse im Alpenraum von Natur aus machen. Markus Brandtner arbeitet als Projektleiter und Vergabekoordinator im Wasserwirtschaftsamt Weilheim. Er ist dafür zuständig, dass die Flüsse vom Alpenstrom Lech bis hin zu einem der vielen Bäche in den ihnen zugedachten Flussbetten fließen. Dass also die Wehre, Abstürze, Brückenpfeiler, Uferbefestigungen halten und die Flüsse nirgends über die Ufer treten, wo Menschen nasse Keller bekommen könnten. „Saubere, stabile Verhältnisse, wie Ingenieure das gerne mögen“, sagt Brandtner im Kiesbett der Windach, an der Stelle, an der das Wasserwirtschaftsamt im Januar 2019 ein Wehr aus dem Fluss geholt und damit eines von 4.000 kleinen Wasserkraftanlagen in Bayern stillgelegt hat.
Die Aue an der Windach – ein Juwel
Fast alle Flüsse in Bayern wie in ganz Deutschland sind heutzutage begradigt, gestaut, betoniert, zivilisiert. Deswegen ist die freifließende Windach etwas Besonderes. „Die gesamte Aue – das ist ein Juwel“, sagt Brandtner, deutet mit ausgestrecktem Arm auf die Bäume und Büsche an den Ufern und freut sich, dass mitten im Fluss bei einem der letzten Regenfälle ein Wurzelstock gestrandet ist. Ein idealer Lebensraum für Krebse, Jungfische, Wasserasseln, Köcherfliegen.
Bis zum Januar 2019 stauten hier Beton und Holz den Fluss an einem Wehr. Bis zu 635 Liter pro Sekunde wurden dem Fluss entnommen und in einen Kanal, Mühlbach genannt, gespeist. Das natürliche Flussbett, Wasserbauingenieure sprechen von der Restwasserstrecke, lag monatelang trocken. Das Wasser floss künstlich erhöht, sauste mit dem gewonnenen Schwung durch die Turbine einer Mühle und produzierte rund 50.000 Kilowatt Strom im Jahr. Seiner urwüchsigen Kraft beraubt, dümpelte das Wasser danach weiter im Mühlbach durch die Gemeinde, bis es nach 300 Metern mitten im Ort in das natürliche Flussbett der Windach zurückfloss.
Markus Brandtner, Wasserwirtschaftsamt Weilheim
„Eine Landschaft, die am Tropf des Menschen hängt“, sagt Brandtner. Ein Hochwasser im Januar 2015 zerstört das marode Wehr und nach politischen Verwirbelungen in der Gemeinde kauft schließlich der Freistaat Bayern die Wasserrechte. „Ein Glück für die Windach, dass die Natur das Wehr kaputt gemacht hat“, stellt Brandtner zufrieden fest. Die Natur eröffnet ihm und seinen Kollegen von der Wasserwirtschaft die Chance, die Europäische Wasserrahmenrichtlinie an der Windach umzusetzen und einen freien Fluss zu schaffen.
Die europäische Wasserrahmenrichtlinie, kurz WRRL genannt, schreibt vor, dass bis zum Jahr 2027 alle Flüsse, Seen und anderen Gewässer in Deutschland in einem „guten ökologischen Zustand“ sein müssen. Deshalb stehen zwischen Elbe und Donau, Neckar und Oder die Wasserwirtschaftsämter vor denselben Fragen: Wie können sie begradigte, gestaute, wohlstandsmüllbelastete, gegen Hochwasser bewehrte Flüsse wieder in einen ökologischen Zustand bringen? Wie schaffen sie Bäche und Flüsse, in denen Bachforelle, Stör, Lachs und Huchen zu ihren Laichplätzen wandern und wieder zurückschwimmen können?
Der Rückbau eines Flusses ist in Deutschland so selten wie die Bachmuscheln in der Windach. Industriebauten abzuwracken gilt nicht als Fortschritt. Doch Klimawandel und Artensterben erfordern neue Sichtweisen. Bei der aus kleinen Flüssen gewonnenen Wasserkraft strömen die beiden Megathemen wie die Arme eines Wildflusses zusammen. Die Erderwärmung lässt weniger Regen fallen, die Temperaturen steigen, mehr Wasser verdunstet – in den Flüssen sinken die Pegel. Niedrige Wasserstände schmälern die Energieausbeute der Wasserkraft und die Gewinne der Kraftwerksbetreiber. Niedrigwasser erstickt auch das Leben vieler Fischarten, für die das Wasser zu warm ist und zu wenig Sauerstoff enthält. Und es verschlechtert die Lebensbedingungen dort, wo Fische seit Jahrzehnten straucheln: an den Wehren.
Bayern: 52.592 Querbauwerke und 4.200 Wehre
Nur in elf Prozent der bayerischen Flüsse können wandernde Fischarten ungehindert stromauf und -ab schwimmen. 52.592 Querbauwerke und 4.200 Wehre der Wasserkraft versperren ihnen ansonsten den Weg. Für Bachforellen, Flussperlmuscheln und andere Tierarten bedeuten Wasserkraftkraftwerke das Ende ihres Lebens im Wildfluss.
Die Wasserkraft gilt jedoch auch als eine Lösung für die CO2-freie Stromgewinnung. Das Wasser fällt als erneuerbare Energie durch die Turbine, weshalb Wehre und Stauseen als notwendiger technischer Eingriff in die Natur gelten. Tote und verstümmelte Fische in den Turbinen der Wasserkraftwerke gelten seit jeher als ein Kollateralschaden des industriellen Fortschritts, auch wenn der sich neuerdings energiepolitischer Fortschritt nennt. Da die Bayerische Staatsregierung einen massiven Ausbau von Windkraftanlagen ablehnt, hält Ministerpräsident Markus Söder (CSU) an der Wasserkraft als bayerische Quelle der erneuerbaren Energie fest.
In der Tat produzieren die 226 großen Kraftwerke mit mehr als einem Megawatt an Isar, Lech und anderen Alpenflüssen ordentlich Energie. Durchschnittlich 12,5 Terawattstunden bezieht der Strommarkt aus der bayerischen Wasserkraft. Das sind zwischen 12 und 15 Prozent der Energieausbeute. Die Deutsche Bahn fährt mit dem Strom aus dem Isar-Wasserkraftwerk am Walchensee.
Doch 4.000 kleinere Anlagen verbauen in Bayern die Flüsse und Bäche. Zusammen tragen diese mit 10, 30 und auch mal 100 Kilowatt Leistung arbeitenden Betriebe nur zu 1,5 Prozent an der bayerischen Stromerzeugung bei. Und versperren dafür tausendfach den Fluss der biologischen Vielfalt.
Nutzen in keinem Verhältnis zum Schaden
„Der Nutzen steht in keinem Verhältnis zum Schaden“, sagt Sigrun Lange vom Büro Wildflüsse Alpen des WWF in der oberbayerischen Kleinstadt Weilheim. Mit ihrem Kollegen Stefan Ossyssek hat sie sich durch die Energiedaten Bayerns, durch Statistiken der Stromerzeugung, Studien über Fischabstiege und die Methankonzentration an Staudämmen gearbeitet. Zusammen haben die beiden einen „Hintergrundbericht zum Zustand der Fließgewässer in Bayern“ verfasst, der die beiden bayerischen Verbände der Wasserkraftwerksbetreiber zu mehrseitigen schäumenden Pressemitteilungen veranlasste. Mit wenigen Windrädern könne Bayern die Strommenge der kleinen Wasserkraft ersetzen, schreiben Lange und Ossyssek. Kostengünstiger sei die Windkraft auch, als die veralteten Kleinstwasserkraftwerke in Bayerns Bächen und Flüssen technisch auf den Stand des 21. Jahrhunderts zu bringen. Und auch mit Sonnenenergie könne Bayern Ökologie und Energiewende versöhnen.
„Zehn Einfamilienhäuser mit Photovoltaikanlagen auf dem Dach erbringen eine vergleichbare Menge an Strom wie ein durchschnittliches Wasserkraftwerk mit weniger als 100 Kilowatt“, rechnet Lange vor. Sie fordert den Rückbau von Wehren und eines Großteils der 52.000 Sperrbauwerke in Bayerns Flüssen. „Die Fischlebensräume sind stark zerstückelt“, sagt Lange. „Rechnerisch befindet sich alle 500 Meter eine Barriere im Fluss.“ Bayern solle die kleinen Wasserkraftanlagen nicht auch noch ausbauen, wie von der Regierung aus CSU und Freien Wählern geplant.
Die Hälfte der kleinen Anlagen müsse modernisiert werden, sagt ein Wasserkraftvertreter. Susanne Lange und der WWF fordern hingegen, dass gerade die 2.350 Kleinstanlagen an Bächen und Flüsschen mit weniger als einem Kubikmeter Wasser pro Sekunde stillgelegt werden, anstatt sie mit staatlichen Millionen aufzupäppeln. Die Systeme abzubauen, so wie an der Windach, die auf einen mittleren Abfluss von weniger als einem Kubikmeter Wasser pro Sekunde kommt. Das ist so wenig, dass man mit kniehohen Gummistiefeln an vielen Stellen durch den Fluss waten kann.
Die Schuld der anderen
„An uns liegt es nicht, dass die Fische sterben“, sagt Hans-Peter Lang, Vorsitzender des Landesverbands Bayerischer Wasserkraftwerke im oberpfälzischen Sinzing. Er zählt die vielfältigen Gründe dafür auf, weshalb den Fischen die Luft ausgeht. Düngung in der Landwirtschaft, Flussbegradigungen, Flächenversiegelungen, der Reifenabrieb von Autos, der mit dem Regenwasser in die Flüsse fließt. „Da wird nix gut sein, wenn man nicht auch an den anderen Stellschrauben dreht“, sagt Lang, der rund 600 Betreiber kleiner Wasserkraftwerke vertritt. Die Wasserverschmutzung verringern will das bayerische Umweltministerium schon seit Jahren, um sich auf den langen Weg der Wasserrahmenrichtlinie mit dem Ziel „guter ökologischer Zustand“ zu begeben. Eigentlich hätte der schon 2015 erreicht werden sollen. Doch die Europäische Union hat den Mitgliedstaaten zwei Verlängerungen bis 2021 und schließlich bis 2027 gewährt. Erst in diesem Jahr beginnt also der letzte Zyklus, in dem Deutschland alles daran setzen muss, die Wasserrahmenrichtlinie zu erfüllen.
Bayern rüstet Hunderte Kläranlagen an bayerischen Flüssen nach, um Quecksilber aus dem Abwasser zu filtern. Das Metall gehört zu insgesamt 45 sogenannten prioritären Stoffen, die krebserregend sind oder den Hormonhaushalt schädigen können und deswegen in Gewässern verboten sind. Die meisten prioritären Stoffe gehören zur Chlorchemie, werden zur Kunststoff- oder Düngemittelherstellung verwendet oder kommen bei der Aluminiumherstellung zum Einsatz. In manchen Einsatzbereichen sind diese Stoffe seit Jahren verboten, doch kommen sie in ungezählten Produkten und industriellen Prozessen weiterhin vor. Es sind Supergifte, die Mensch und Fisch gleichermaßen schädigen.
Neben der chemischen Qualität des Wassers prüfen die staatlichen Umweltexperten in Bayern auch 67 Stoffe zur ökologischen Bewertung eines Flusses. „In rund 95 Prozent der bayerischen Flusswasserkörper werden die Umweltqualitätsnormen für den Zeitraum des 3. Bewirtschaftungsplans (2014–2019) eingehalten“, teilt eine Sprecherin des Bayerischen Landesamts für Umwelt schriftlich mit.
Dennoch erreichen nur drei von 913 untersuchten bayerischen Flüssen einen „sehr guten ökologischen Zustand“, 15 Prozent der Flüsse sind in „gutem ökologischen Zustand“. In anderen deutschen Bundesländern ist es nicht besser. Wobei im Freistaat die vielen kleinen Wasserkraftwerke samt ihren Wehren die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie behindern. Das ist einmalig in Deutschland. Und deswegen reden in Bayern auch Hunderte Landwirte, Mühlen- und Waldbesitzer, Sägewerksbetreiber und ihre Lobbyisten in den Wasserkraftwerksverbänden mit, wenn es um die biologische Vielfalt im Fluss geht.
Der Streit ums Mindestwasser
Hauptstreitpunkt ist dabei das sogenannte Mindestwasser. Das ist die Wassermenge, die die Kraftwerksbetreiber im Fluss fließen lassen müssen, damit das Leben dort nicht vollends austrocknet. Bislang gelten Wassermengen, die „viel zu wenig für die Ökologie und zu viel für die Kraftwerksbetreiber“ bemessen, sagt Experte Markus Brandtner, der die Natur in Windach zurückgebracht hat. „Unser ständiger Kampf mit dem Restwasser“, nennt Kleinwasserkraftvertreter Lang den Konflikt. Er fordert, dass „die Wasserrahmenrichtlinie den Gegebenheiten angepasst wird, dass es trockener wird“. Sein Kollege Josef Rampl von der Vereinigung der Wasserkraftwerke in Bayern wünscht sich eine „maßvolle Umsetzung“ der Wasserrahmenrichtlinie. Rampl meint damit: mehr Wasser für die Wasserkraft als für den Fluss. Er vertritt rund 150 Mühlenbetriebe, die mit der Energie aus ihren Wasserkraftwerken mahlen und den Überschuss ins Stromnetz speisen. „Das sind wesentliche Bindeglieder der regionalen Wertschöpfung“, sagt Rampl. „Warum die Anlagen zurückbauen?“, fragt er. „Vielleicht vermissen wir sie eines Tages?“
Es ist absehbar, dass sich die Dürren auch im bisher so regen- und schneereichen Bayern mehren werden. Der Kampf um das Mindestwasser geht also erst los. Schon von Natur aus erreichen die Flüsse bei Dürre keinen „guten ökologischen Zustand“, wie von der Wasserrahmenrichtlinie vorgeschrieben. Je weniger Wasser fließt, desto wärmer wird es im Sommer und desto weniger Sauerstoff befindet sich im Wasser. Fische ersticken, die Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie verdunsten.
Seit drei Jahren verschleppt das bayerische Umweltministerium einen neuen Mindestwasserleitfaden, der die Fakten des Klimawandels und die Ziele der Wasserrahmenrichtlinie zusammenbringen soll. Die naturwissenschaftlichen Daten dafür liegen schon seit 2017 vor. Schon damals kam das Bayerische Landesamt für Umwelt zu dem Ergebnis, dass sich etwas ändern muss.
Mit anderen Worten: Mehr Wasser muss im Fluss bleiben, damit Fische, Muscheln und Krebse überleben können. Die Empfehlungen der Umwelt- und Gewässerökologen waren 2017 eindeutig, doch das bayerische Umweltministerium setzt sie nicht um. „Die Handlungsanleitung Mindestwasser befindet sich derzeit in Vorbereitung“, teilt eine Sprecherin des Umweltministeriums in München im Dezember 2020 mit und geht auf konkrete Fragen zur Wassermenge nicht ein.
Noch ist der Rückbau an der Windach einzigartig, und deshalb schauen sich an diesem Tag auch Sigrun Lange und Stefan Ossyssek vom WWF den Fluss an. Mit Wasserwirtschaftsexperte Brandtner stehen sie zwischen rundgeschliffenen Steinen im Flussbett. Um seinen Begleiter_Innen zu zeigen, wohin ein Wildfluss führt, geht Brandtner in die Hocke und bohrt seinen Zeigefinger zwischen die gelblichen, stecknadelkopfgroßen Steinchen, die sich locker am Ufer gesammelt haben. „Richtiger Sand“, sagt er zufrieden, als habe er ihn selbst geschürft. Forellen und andere Fische der Wildflüsse laichen auf Kies und Sand, Bachmuscheln finden im lockeren Kiesbett eine Kinderstube. Noch vor einem Jahr verklebte Schlick den Kies und Sand, erzählt Brandtner dort, wo sich der Fluss jahrzehntelang zu einem trüben Tümpel am Wehr vor der Ableitung im Mühlbach staute.
Am Wehr schiebt sich zusammen, was ein natürlicher Fluss aus den Bergen ins Tal spült und was Gewässerexperten wie Brandtner „Geschiebe“ nennen. Steine, Kiesel, Schwebteile, die in ungehindert fließenden Flüssen auf der Strecke bleiben. Vor dem Wehr stauen auch Äste, Zweige, Blätter und Grünzeug, die einen klaren Fluss in eine Brühe verwandeln und das Leben ersticken.
Auf 1,2 Kilometern hat die Windach nun wieder freien Fluss. Aber bis zur Mündung in die Ammer 13 Kilometer weiter stauen immer noch sechs weitere kleine Wasserkraftanlagen den Fluss. Sie einfach abzureißen, geht aber auch nicht. Denn die Menschen in der Gemeinde Windach haben Häuser, einen Sportplatz, das Feuerwehrhaus und Straßen so nahe an den Fluss gebaut, dass sie die Staustufen für den Schutz vor Hochwasser benötigen.
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