Politikwissenschaftlerin über Patente: „Reiche Länder profitieren“
Um eine globale Pandemie einzudämmen, braucht es eine globale Impfstrategie, sagt Anne Jung. Patente seien das größte Problem.
taz: Frau Jung, in der EU wurde jüngst der Biontech-Impfstoff gegen das Coronavirus zugelassen. Können sich auch Menschen in anderen Regionen der Welt darüber freuen?
Anne Jung: Alle wollen, dass die Pandemie bald vorbei ist. Nur dürfte die Freude über die Impfstoffzulassung hierzulande größer gewesen sein als in den Ländern des Globalen Südens.
Warum?
Reiche Länder profitieren als Erste, sie haben sich durch Exklusivverträge mit der Pharmaindustrie die Zugänge gesichert. Weite Teile der Welt, darunter fast alle Länder des afrikanischen Kontinents, werden sich wohl noch ein paar Jahre gedulden müssen, bevor sie flächendeckend mit dem Impfstoff versorgt werden. Und das, obwohl die indirekten Folgen der Pandemie dort besonders bedrohlich sind, denn viele Menschen arbeiten und leben ohne jede soziale Absicherung. Es ist nicht gelungen, in diesen langen Monaten, die jetzt Zeit gewesen wären seit dem Ausbruch der Pandemie, international eine Regelung zu finden, die gleichberechtigten globalen Zugang zu dem Impfstoff ermöglicht.
ist Politikwissenschaftlerin und bei Medico International für das Thema Globale Gesundheit zuständig. Die Organisation hat den Aufruf „Patente töten“ mitinitiiert.
Welche Stellschrauben können das ändern?
Die Patente auf Medikamente! Die Kosten gehen in die Höhe, wenn die Pharmaindustrie nicht als Gegenleistung für die Bereitstellung von öffentlichen Mitteln zur Deckelung gezwungen wird. Und darüber hinaus darf die Zusammensetzung des Impfstoffs kein Geschäftsgeheimnis sein, sondern müsste, im Interesse der Menschheit – das kann man ja schon sagen –, in so einen öffentlichen Patentpool eingespeist werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat übrigens schon sehr früh auf die Initiative von Costa Rica den Vorschlag gemacht, einen Patentpool aufzusetzen: C-TAP, der sogenannte Covid-19 Technology Access Pool.
Wie funktioniert der?
Die Idee ist, dass Patente und Formen von geistigem Eigentum – also die Daten, die Software und so weiter –, dass das alles in einem Pool gesammelt wird, aus dem sich dann auch andere Länder bedienen können, um weiter zu forschen. Aber auch, um es leichter zu machen, den Impfstoff an verschiedenen Orten der Welt herzustellen. Diese Initiative war aus unserer Sicht ganz großartig. Und die ist aber in praktisch allen Mitgliedstaaten Europas und darüber hinaus abgelehnt worden und nicht weiterverfolgt worden. Die Pharmaunternehmen selber haben gesagt: „Das ist Unsinn, das brauchen wir nicht.“ Und dieser Haltung haben sich leider auch Deutschland und viele andere Länder im Ergebnis angeschlossen.
Patente sorgen dafür, dass es eine Art Copyright auf die Erfindung etwa eines Impfstoffs gibt, den Forscher*innen ist somit Profit gesichert. Ist das nicht eine grundlegende Voraussetzung, um die Forschung anzutreiben?
Das ist ein Trugschluss, an dem die Pharmaindustrie nur allzu gern festhält. Es heißt immer, Patente ermöglichen, dass die Pharmaindustrie überhaupt forscht. In der Praxis ist es so: Medikamente, Impfstoffe und andere Arzneimittel werden mit sehr viel öffentlichen Geldern entwickelt und erforscht. Natürlich auch mit Mitteln der Pharmaindustrie, aber zu einem viel geringeren Prozentsatz, als man denkt. Dann ist der Impfstoff irgendwann fertig und die Pharmaindustrie bekommt ein Patent, das ihr garantiert, dass sie den für mehrere Jahre zu einem selbst festgelegten und meist hohen Preis abgeben kann. Das erschwert natürlich die Produktion von einem Impfstoff, gerade wenn er in einer nie geahnten Menge gebraucht wird wie jetzt in dieser Pandemie. Und das Argument ist immer: Sie haben ja so viel Geld da reingesteckt.
Was fordern Sie?
Wir fordern grundsätzlich die Begrenzung der Macht von Pharmaunternehmen bei der Produktion von lebensnotwendigen Medikamenten im öffentlichen Interesse. „Wem gehören Patente?“, wurde der Erfinder des Impfstoffs gegen Polio gefragt. Seine Antwort: den Menschen. Darf man die Sonne patentieren? Er gab seine Entdeckung frei. Heute ist Kinderlähmung fast ausgerottet.
Das Vakzin von Biontech/Pfizer ist der weltweit erste zugelassene Impfstoff und muss dauerhaft bei –70° C gekühlt werden. Kostenpunkt: 20 Dollar pro Dosis.
mRNA-1273 von Moderna kommt aus den USA und kostet 37 Dollar. Es kann für die Dauer von Transport und Verteilung im Kühlschrank aufbewahrt werden.
Der Impfstoff des britisch-schwedischen Unternehmens AstraZeneca kostet nur 4 Dollar pro Dosis und kann dauerhaft im Kühlschrank gelagert werden. Immunitätsquote: maximal 80 Prozent.
Das Vakzin von Johnson & Johnson befindet sich in der Phase-III-Wirksamkeitsstudie. Kosten: 10 Dollar.
Coronavac von Sinovac kommt aus China und wird derzeit an tausenden Freiwilligen getestet. Eine Impfung kostet 30 Dollar.
Sputnik V wurde in Russland bereits am 11. August zugelassen – noch bevor Ergebnisse aus Phase-III-Studien vorlagen. Eine Dosis kostet 10 Dollar. Wirksamkeit: 92 Prozent.
Was würden die Pharmakonzerne sagen, wenn mit der Abschaffung von Patenten ihr Profit zunichte gemacht würde? Und was antworten Sie?
Pfizer hat wie fast alle Pharmariesen hohe Summen an Zuschüssen bekommen für die Entwicklung des Impfstoffs: 400 Millionen Euro. Öffentliche Mittel, also auch unser Geld! Und diese Unternehmen werden durch die Produktion genügend Geld verdienen, auch wenn die Preise gedeckelt werden.
Was hat es mit den Exklusivverträgen auf sich, die vor allem westliche Länder mit Pharmaunternehmen schließen?
Wir kennen die Details dieser Exklusivverträge nicht, die zwischen Deutschland und anderen Industrienationen und der Pharmaindustrie geschlossen wurden. Da haben wir es mit einem Demokratiedefizit zu tun. Wir wissen nur, es sind viele öffentliche Gelder, unsere Steuergelder, die da reingeflossen sind. Das ist auch okay so, aber da fordern wir einfach Transparenz.
Die WHO hat zusammen mit Stiftungen das Programm ACT gestartet, zu dem die Covax Facility gehört: Es wird Geld von reichen Ländern gesammelt, um damit Corona-Impfstoff für ärmere Länder zu finanzieren. Was halten Sie davon?
Das Programm ist problematisch. Covax wird getragen von sogenannten Public-private-Partnerships, in denen die Akteure sehr unterschiedliche Interessen haben. Auch die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung ist dabei und diese möchte das Thema Patente unangetastet lassen. Covax ist aus meiner Sicht als eine Art von modernem Ablasshandel zu bewerten, weil weitgehende strukturelle Veränderungen verhindert werden. Wir alle haben verstanden, dass diese Pandemie erst zu Ende ist, wenn sie für alle zu Ende ist, sodass es natürlich ein Interesse an globalem Handeln gibt. Und natürlich gibt es auch ein politisches Interesse, die armen Länder nicht völlig im Regen stehen zu lassen. Faktisch ist es aber so, dass genau die Akteure, die sich da bei Covax zusammengefunden haben – darunter die Industrienationen –, mit aller Gewalt an ihrem System festhalten.
Mit Gewalt?
Im Kontext der Pandemie, in Hinblick auf soziale und wirtschaftliche Auswirkungen ist das durchaus wörtlich zu verstehen, der Begriff der Gewalt. Das Recht auf Gewinne für Pharmaunternehmen und die Stabilisierung unseres kapitalistischen Systems wird höher bewertet als das Menschenrecht auf Gesundheit. Und deswegen steigen natürlich die Kosten der Impfstoffe. Das fördert auch die Abhängigkeit der armen Länder, die auf die Rolle der Hilfsempfänger*innen reduziert werden.
Was braucht es, damit diese Länder nicht nur Empfänger*innen von Wohltätigkeiten sind?
Hätte es einen offenen Patentpool gegeben, wären die Zwischenergebnisse der Forschung veröffentlicht worden, dann wäre es für arme Länder möglich gewesen, auch eigene Produktionsstätten für den Impfstoff leichter aufzubauen. Manche Impfstoffe müssen tiefgekühlt werden. Das ist natürlich mit Blick auf Distribution gerade in heißen Ländern sehr kompliziert, eine geschlossene Kühlkette aufrechtzuerhalten. Aber es wäre eben möglich gewesen, sich auf eine eigene Produktion vorzubereiten. Das hätte schon mal einen Strang der Abhängigkeit reduziert. Diese globale Ungerechtigkeit weist über die Coronapandemie hinaus. Das wird vor allem dort sichtbar, wo Menschen unentbehrliche Medikamente nicht bezahlen können. Die tödliche Wucht dieses Systems trifft alle, aber ganz besonders schwer diejenigen, die aufgrund ihrer Herkunft und ihres Einkommens an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Die Zonen des Ausschlusses reichen von Flüchtlingslagern über städtische Armenviertel überall auf der Welt bis zu ganzen Ländern.
Nicht nur die Pharmakonzerne setzen ihre Interessen durch, auch die einzelnen Länder liefern sich Wettrennen im Aufkaufen von Impfstoffen.
Die erste Regierung, die exklusiv Verträge geschlossen hat oder das versucht hat, waren ja die USA. Da gab es einen Aufschrei in Deutschland, in Europa: Trump verrät den Multilateralismus und das ist unerträglich. Aber die europäischen Länder und auch Deutschland haben ja genau das Gleiche gemacht. Alle bringen erst mal ihre Exklusivverträge unter Dach und Fach und fragen sich dann erst: Was ist mit dem Rest der Welt? Das ist wie gesagt nicht hilfreich bei der Eindämmung einer Pandemie. Es wäre von Anfang an nötig gewesen, global darüber nachzudenken: Wer braucht eigentlich diesen Impfstoff zuerst? Bei welchen Ländern schlagen die ökonomischen und gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie am schnellsten durch? Denn die Covid-19-Pandemie zeigt der gesamten Welt, dass Gesundheitspolitik eine globale Aufgabe ist, die von den Regierungen mit Verantwortungsbewusstsein wahrgenommen werden und an einem menschenrechtlichen Prinzip ausgerichtet werden muss und an nichts sonst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“