Abschlussbericht der Wende-Kommission: Die Fahnen kamen zuerst
Die Kommission will mit Deutschlandfahnen das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Ost und West stärken. Dabei gab es daran nie einen Mangel.
Es war schon dunkel, als ich nach Hause ging. War noch unterwegs gewesen, mit Freunden, Bekanntschaften eher. Durch die Innenhöfe der Betonburg in Rostock, wo ich aufgewachsen bin. Von verschiedenen Ecken war das Gegröle zu hören. Keine Party, eine Machtergreifung. Fahnen, Fäuste, Feuerwerk. Die Gruppe, fünf oder sechs Leute, wollte noch weiter, durch irgendeinen Durchgang in den nächsten Hof zwischen diesen Plattenbauten, und ich wollte nach Hause. „Würde an deiner Stelle auch gehen“, sagte einer. Gar nicht unfreundlich, gar nicht drohend, einfach nur feststellend, wie es eben war. Die Claims abgesteckt, es war deren Nacht, deren Hof. Zugelassene Gäste gab es jede Menge. Die Zecke aber ging besser nach Haus. Hatte es auch nicht weit, ist nichts passiert. Dieses Mal. Danach hatten die noch viele Nächte.
Drei Jahrzehnte nach diesem 3. Oktober 1990 legte die Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ an diesem Montag ihren Abschlussbericht vor. 2019 von der Bundesregierung eingesetzt, sollte das Gremium den Einheitsprozess bilanzieren und Handlungsempfehlungen für die kommenden Jahre geben. Dem Bundeskabinett war nämlich ein Problem bewusst geworden: „Trotz der eindrucksvollen Erfolge stellt der Stand der deutschen Einheit nicht alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen zufrieden. Vor allem in Ostdeutschland …“
Ja, da haben sie den Finger tief in der Wunde, direkt am lebenden Puls der Zeit gewissermaßen. Ostdeutschland. Immerhin ist nicht mehr die Rede von den „fünf neuen Ländern“, aber fremdeln tun sie doch noch immer ein bisschen.
Mögliche Gründe nennt der Kommissionsbericht einige. In soziologischer Schönschrift wird von den „schwierigen Jahren der Transformation“ geschrieben. „Brutale flächendeckende Deindustrialisierung“ hätte vielleicht zu hart in dieser Festschrift geklungen. Aber wir wissen ja alle, dass genau das gemeint ist. „Vor allem in Ostdeutschland“, ach ja, dort, „schmerzen bis heute die Wunden der SED-Diktatur.“ Wie ein Furunkel tun sie weh. Deshalb soll nach Empfehlung der Kommission auch die Lebensleistung der Menschen in den letzten 30 Jahren in den Mittelpunkt gerückt werden. Eine Salbe auf die wunde Stelle. Über die Lebensleistung der Ostdeutschen vor 1990 haben wir jetzt auch wirklich lange genug geredet, sollen sie doch in ihren Kleingärten sitzen, die Renten versaufen und sich Geschichten aus der DDR erzählen.
Die Sichtbarkeit der Ostdeutschen mit Lebenseintritt ab 1990 soll erhöht, Begabte aus dem Entwicklungsgebiet sollen besonders gefördert und Begegnungen für ein besseres Verständnis zwischen Ost und West ermöglicht werden. Ein Rest Sozialdemokratie (der Ex-SPD-Chef und freundliche Musterossi Matthias Platzeck steht dem Gremium vor) findet sich in dem Vorschlag, die Sozialpartnerschaft im Osten in besonderer Weise zu stärken. Wer Tariflohn verdient, findet sich vielleicht besser aufgehoben in diesem Land: Durchaus nicht der dümmste Gedanke. Der nämlich ist der Sektion „Die Symbole der Demokratie leuchten lassen“ vorbehalten.
„Wer am 3. Oktober erkennbar die Nationalfarben trägt, soll kostenlos (oder zumindest zu stark reduziertem Tarif) öffentliche Verkehrsmittel benutzen können.“ Ein positiver Bezug zu den Symbolen von Nation und Demokratie, so zumindest die Theorie, stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Nur: Ein Mangel an schwarz-rot-goldnen Fahnen und der Bereitschaft, sie auch vorzuzeigen, scheint nicht wirklich zu herrschen. Auf jeden Fall nicht in Ostdeutschland. Die Fahnen waren schließlich das Erste, was da war, schon vor der Einheit. Nicht wenige werden selbst den Fetzen aus der Nacht vom 2. auf den 3.Oktober 1990 noch immer in Ehren halten. Die Fahne, die mit dem Feuerwerk kam. Und mit den Fäusten. Die waren nie weg, „trotz der großen Erfolge“ dieser 30 Jahre.
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