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Apfelernte im Alten LandDie Früchte der Arbeit

Rund 3.500 Erntehelfer*innen, vor allem aus Polen und Rumänien kommen in dieser Saison ins Alte Land. Wie sind ihre Arbeitsbedingungen?

Müssen noch gepflückt werden: Äpfel Foto: Daniel Bockwoldt/dpa

Hamburg taz | Stellenanzeigen für Erntehelfer*innen bei Ebay Kleinanzeigen lesen sich so: „Neben einer leistungsorientierten Bezahlung erwartet dich eine angenehme Arbeitsatmosphäre.“ Voraussetzung seien „die Bereitschaft zur 6-Tage-Arbeit“, genau wie körperliche Belastbarkeit. Denn egal, welches Obst oder Gemüse geerntet wird, das Bücken, Strecken, Stechen, Pflücken und Sammeln schießt ins Kreuz und in die Knie.

Im Alten Land, dem größten geschlossenen Obstanbaugebiet Europas, hängen gerade leuchtend rote Äpfel in den Baumreihen. Sonntagsfahrer*innen auf dem Weg zum Deich zuckeln hinter den schmalen Treckern her, die auf Anhängern in Holzkisten Apfelberge zu ihren Lagern transportieren.

Mit Leitern muss heute niemand mehr in die Zweige steigen, um Holsteiner Cox, Elstar oder Boskop zu pflücken. Die Bäume sind so gezüchtet, dass sie nicht viel größer als die Männer werden, die sie bewirtschaften. Wenn sie noch jung sind, hängen an den wenigen kurzen Zweigen trotzdem Dutzende Früchte. Man fragt sich, wie die kleinen Bäumchen ihr Gewicht tragen können.

Im Obstanbau ist heute alles auf Effektivität getrimmt – auch die Ernte. Pflücker*innen kommen aus Rumänien oder Polen. Sie leben in der Regel in Wohncontainern, teilen sich darin ein Zimmer. Das Bild, Landarbeiter*innen kämen bei den Familien unter, für die sie arbeiten, und säßen abends mit ihnen am gedeckten Abendbrotstisch, entstammt der Vergangenheit.

Die Apfelernte ist in vollem Gange

Aber wie leben Erntehelfer*innen tatsächlich? Sind unbezahlte Überstunden und überbelegte Unterkünfte die Regel oder die Ausnahme? Ist die Situation der Menschen im Alten Land mit der von Leiharbeiter*innen in anderen Branchen vergleichbar?

Darauf gibt es, je nach Gesprächspartner*in unterschiedliche Antworten.

Ulrich Buchterkirch steht in Gummistiefeln im Nieselregen, als er das Telefonat mit der taz führt. Die Apfelernte ist in vollem Gange. Eigentlich hat er nicht viel Zeit, aber er nimmt sie sich, weil er das Gefühl hat, dass er etwas klarstellen muss.

Es stört ihn offensichtlich, dass es nach den Skandalen in der Schlachtindustrie jetzt auch Nachfragen zur Situation im Obstanbau gibt: „Es tut einem weh, mit anderen Branchen in eine Ecke gestellt zu werden“, sagt er. Es gebe einen „himmelweiten Unterschied: Wir haben im Alten Land vor allem kleine Familienbetriebe.“ Und da bestehe immer eine Nähe zu den Arbeiter*innen.

Buchterkirch ist Vorsitzender der Fachgruppe Obstbau des Landvolks Niedersachsen. Auf seinem Hof in Kehdingen arbeiten 30 Erntehelfer*innen, die meisten aus Polen, ein paar aus Rumänien. „Die kommen zum Geldverdienen“, sagt er, „aber auch, weil sie gerne kommen.“

Ein Erntehelfer habe in diesem Jahr 30-jähriges Jubiläum. Normalerweise würde das gefeiert, aber in diesem Jahr sei wegen Corona alles anders. Wegen des strengen Hygienekonzepts könnten auch das gemeinsame Grillen zur Halbzeit der Ernte und das Fest am Ende nicht stattfinden.

Ohne Erntehelfer ist der Landwirt nichts

Es sei kein Einzelfall, sondern die Regel, dass die Helfer*innen jedes Jahr wiederkommen und neue Kräfte in ihrem Freundes- und Familienkreis anwerben. „Wir gehen sechs Wochen durch Dick und Dünn, auch bei Scheißwetter“, sagt Buchterkirch. 1.500 Tonnen Äpfel ernten sie. Für ihn sei es eine Selbstverständlichkeit, seine Angestellten vernünftig unterzubringen. „Wir haben Ferienhäuser umgerüstet.“

Das sei auch deshalb wichtig, weil die Erntehelfer*innen, wenn sie mit den Arbeits- und Lebensbedingungen nicht zufrieden seien, einfach wieder zurückführen, sagt der Landwirt. „Meine Leute wissen alle, ich bin ohne sie nichts.“

Aldona Kucharczuk nimmt die Situation bei der Apfelernte anders wahr. Sie berät EU-Bürger*innen bei der Servicestelle Arbeitnehmerfreizügigkeit in Hamburg in Fragen des Arbeitsrechts und hilft ihren Klienten dabei, ihre Rechte vor Gericht durchzusetzen.

Einfach zurückfahren könnten Arbeiter*innen aus Polen oder Rumänien nicht, wenn ein Landwirt sie über den Tisch gezogen habe oder die Unterkunft heruntergekommen sei. „Schon der Sprit ist eine Investition. Die müssen tausend Kilometer in eine Richtung machen“, sagt Kucharczuk.

Pro Saison meldeten sich zwei bis drei Arbeiter*innen bei ihr. Sie berichteten davon, dass sie den Mindestlohn von 9,35 Euro nicht bekämen, dass in ihren Verträgen stehe, dass sie 20 Stunden pro Woche arbeiteten, dann aber 80 Stunden lang Äpfel pflückten, dass ihnen ein Großteil des Geldes schwarz in bar ausgezahlt werde und sie nichts für die Rente einzahlen könnten oder sie sich das nötige Werkzeug, zum Beispiel für das Beschneiden der Bäume, selbst kaufen müssten. Kucharczuk rattert das runter. Sie könnte noch mehr Beispiele aufzählen.

Die Gewerkschaft ist nicht präsent

Dass es nur so wenige Arbeiter*innen seien, die sich Hilfe bei ihr suchten, habe mehrere Gründe. „Auch wenn sie hier nicht den Mindestlohn bekommen, entspricht es wahrscheinlich immer noch drei Monatsgehältern in Polen“, sagt die Beraterin. Die Menschen seien glücklich, dass sie Geld verdienten. Und selbst wenn sie merkten, dass ihnen Unrecht getan werde, „wissen sie nicht, wo sie Hilfe bekommen“.

Denn auch die zuständige Gewerkschaft IG BAU (Bauen-Agrar-Umwelt) ist im Alten Land nicht präsent, Saisonarbeiter*innen kennen sie nicht. „Für uns ist es ein Problem, dass sie keine Mitglieder sind“, sagt Gewerkschaftssekretärin Katharina Bergmann. Für Erntehelfer*innen, die nach einer Saison wieder in ihr Heimatland fahren, ist das nicht attraktiv. In diesem Jahr habe die IG BAU deshalb erstmals Mitgliedschaften auf Zeit vergeben. „Das funktioniert gut“, sagt Bergmann. „Die Betroffenen haben dann auch Rechtsschutz.“

Der Bedarf sei da, meint auch sie. „Es gibt immer Arbeitgeber, die versuchen, den Mindestlohn zu drücken.“

Ulrich Buchterkirch vom Landvolk sind solche Fälle von Lohndumping nicht bekannt. Von Landwirt*innen, die ihre Mitarbeiter*innen zu viert in einem Containerzimmer unterbrächten, hat er aber schon gehört. Da habe Corona aber auch etwas Gutes gehabt. Die Abstandsregelungen hätten „bei dem einen oder anderen schwarzen Schaf dazu geführt, dass es weiß geworden ist“.

Mehr zur Apfelernte im Alten Land und der Region drumherum lesen Sie im aktuellen Nord-Schwerpunkt der taz am Wochenende oder am E-Kiosk.

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