Kandidatenwahl open air: Frische Luft für die Grünen
Die Grünen in Mitte wählen ihren Bürgermeisterkandidaten an diesem Samstag coronakompatibel– im geschichtsträchtigen Poststadion.
Ein Sonntagnachmittag, 45.000 Menschen auf den Rängen in Moabit, Schalke 04 liegt im Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft 0:1 zurück, als erst Fritz Szepan ausgleicht, dann sein Schwager Ernst Kuzorra Georg Böhm im Tor der Nürnberger keine Chance lässt und zum 2:1-Sieg trifft.
Auch an diesem Samstag 86 Jahre später werden im Poststadion wieder Männer miteinander um einen Titel kämpfen, wieder Menschen erregt auf der Tribüne sitzen. Doch dann sind nicht Fußballer wie 1934, sondern Politiker im Wettstreit, und auf der überdachten Haupttribüne stehen auch nicht Tausende, sondern nur 300 bis 400: Die Grünen in Mitte entscheiden coronakompatibel Open Air über ihren Bürgermeisterkandidaten für die Wahl 2021.
Es ist eine äußerst kreative Variante für einen Parteitag. Fast 1.700 Mitglieder gibt es im Grünen-Kreisverband Mitte insgesamt, ein Fünftel bis ein Viertel davon erwarten die Organisatoren. Es war die Idee der Kreisgeschäftsführerin Nora Kolhoff, das Stadion unweit des Hauptbahnhofs zu nutzen: Jenes Stadion, in dem sich ab Ende der 20er bis Mitte der 30er Jahre jährlich die Deutsche Fußballmeisterschaft entschied, bevor das Finale drei Jahre nach dem Sieg der Schalker ins Olympiastadion umzog.
Solche Kreativität ist bei den Organisatoren aller Parteien derzeit überaus gefragt. Denn mehrere Hundert Menschen lassen sich unter Wahrung der Corona-Abstandsregeln kaum in einem überdachten Raum unterbringen – umso weniger einen ganzen Tag lang mit immer dichterer Virenballung: Die Grünen-Mitgliederversammlung ist von 9.30 bis 18 Uhr angesetzt, neben der Bürgermeisterkandidatur und diverse Formalien geht es um die Auswahl der Bewerber für das Abgeordnetenhaus.
Also werden Stephan von Dassel und Tilo Siewer am Samstag auf und vor den Rängen stehen und um Stimmen werben: Der eine will Bürgermeister bleiben wie seit Ende 2016, der andere, der aktuell Fraktionschef im Bezirksparlament ist, will ihn ablösen. Wobei die Entscheidung am Samstag bloß der erste Schritt ins Amt ist. Im zweiten müssen die Grünen dazu nächstes Jahr bei der Wahl in Mitte wie 2016 – als sie 0,1 Prozentpunkte vor der SPD lagen – stärkste Partei werden und im dritten Schritt eine Koalition bilden können, die auf Bezirksebene Zählgemeinschaft heißt.
So wie der 2:1-Finalsieg eine Ablösung war, bei der Schalke, bis dahin ohne Meistertitel, die schon fünfmal erfolgreichen Nürnberger bezwangen und eine eigene Serie von sechs Titeln begannen, so will Tilo Siewer die Ära von Dassel beenden. Zu wenig grün sind für ihn ein paar Dinge, die von Dassel als Bürgermeister entschieden hat, vor allem, ein Obdachlosenlager räumen zu lassen.
„Auch ich würde als Bezirksbürgermeister vielleicht mal gezwungen sein, Maßnahmen wie eine Räumung anzuordnen“, sagt er jüngst der taz, aber statt Journalisten würde er dann Sozialarbeiter mitbringen. Was von Dassel so nicht stehenlassen mochte – auch er habe solche eingesetzt.
Von Dassel sieht in der Kritik an seiner Amtsführung kurzgefasst ein Ausblenden von Realität, auch wenn er das so nicht formuliert. „Menschen unter katastrophalen Bedingungen unter Brücken leben zu lassen, verstößt auch gegen eine grüne Grundüberzeugung“, sagte er gegenüber der taz. „Leider enden Wahlprogramme oft da, wo die Probleme anfangen.“
Am Samstag werden am Ende wieder Menschen jubeln, wenn auch vielleicht nicht so frenetisch wie beim Fußballfinale. Bloß geht es halt um Stimmen statt Tore. Eine Fußballweisheit gilt trotzdem: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Acht Tage später entscheiden die Grünen im Poststadion nochmal – darüber, wen sie in die Bundestagswahl schicken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!