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Schäuble-Vorstoß für RäteMit Heinz im Lostopf

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble will mit zufällig gelosten Räten die Demokratie stärken. Aber Menschenrechte vertraut man nicht dem Los an.

Mehr direkte Demokratie wagen? Wolfgang Schäuble vor Beginn der 177. Sitzung des Bundestages Foto: Kay Nietfeld/dpa

U m die Demokratie zu stärken, hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble einen konkreten Vorschlag: Räte. Räte, in denen sich Bürger*innen zusammenfinden, politisch relevante Themen diskutieren und anschließend Reformvorschläge machen. Diese sollen die Parteien ergänzen und insgesamt die Partizipation der Bevölkerung stärken, sagte Schäuble der Süddeutschen.

Schäubles Filmtrailer klingt wie aus einem politischen Disney-Movie, das ein Happy End für alle verspricht, während auf cute gezeichnete Tiere im Wald zusammen tanzen zu optimistischer Flötenmusik im Hintergrund. Was auf den ersten Blick wie die Lösung der Demokratiekrise aussieht, hat ein entscheidendes Problem: Ich – als Nafri – vertraue diesen ganzen Bürger*innen nicht. Ich muss bloß die Tageszeitung oder das Internet öffnen, um zu verstehen, dass dieses Skript nur in einem katastrophalen Kompromiss enden kann.

Wolfgang Schäuble schlägt nämlich vor, die Räte per Losverfahren zu besetzen. Vorbilder gibt es in anderen Ländern, dort setzen sich die Räte entweder komplett mathematisch zufällig zusammen, oder immerhin nach Bevölkerungsgruppen quotiert. Klingt super, was auf diese Weise aber auch passieren könnte: Im Rat für Reproduktionsrechte von Frauen sitzen ein paar Maskulinisten. Zur Ratssitzung „Lösungen für die Klimakrise“ fahren einige Mitglieder mit dem SUV vor. Außerdem bin ich sicher, dass es einen „Rat für Migration und Integration“ geben wird – weil es in Deutschland immer einen „Rat für Migration und Integration“ geben wird.

Dort sitzen dann per Los ausgewählt dieser Polizist (der sich für den privaten Gebrauch persönliche Daten aus dem Dienstcomputer zieht), Heinz aus Süd-Neukölln (er fährt nicht mehr U-Bahn, weil er findet, diese „Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ sind rücksichtslos. Außerdem weigert sich Heinz, Maske zu tragen) und der Chef der Essener Tafel (der bedürftigen Ausländers keine Lebensmittel mehr spenden wollte, so im Sinne von: „deutsche Oma vor Roma“). Alice Schwarzer sitzt auch im Rat zur Abschaffung der Nafris. Sie durfte sich als VIP einen Rat aussuchen. Und mittlerweile sind ihr „Migration und Integration“ viel wichtiger als die Reproduktionsrechte von Frauen.

Nicht per Los Menschenrechte anvertrauen

Eine Sache muss ich Schäuble lassen. Und ich hätte kaum geglaubt, dass ich ihm mal zustimmen würde, aber here we go: Schäuble hat recht, wenn er an direkter Demokratie kritisiert, dass die breite Bevölkerung uninformiert über existenzielle Fragen abstimmen soll. Bestes Beispiel: der Brexit (mir ist der Niedergang des britischen Ex-Empire absolut egal, aber es ist tatsächlich ein gutes Beispiel). Noch fataler als uninformierte Entscheidungen sind aber in Deutschland sehr gut informierte und geplante Kompromisse. Wie gesagt, vertraue ich diesen Bürger*innen einfach nicht. Schon gar nicht möchte ich ihnen per Los Menschenrechte, das Klima oder gar meine Existenz anvertrauen.

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Mohamed Amjahid
Mohamed Amjahid ist freier Journalist und Buchautor. Seine Bücher "Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken" und "Let's Talk About Sex, Habibi" sind bei Piper erschienen. Im September 2024 erscheint sein neues, investigatives Sachbuch: "Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt" ebenfalls bei Piper.
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16 Kommentare

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  • Wer den Brexit als Argument gegen Bürgerräte vorbringt, gleichzeitig aber die in Kombination mit »Citizens Assemblies« durchgeführten Referenden in Irland verschweigt, verbreitet nichts weiter als ungebildete Polemik.

    Vielleicht sollte man das nächste mal jemanden etwas zum Thema schreiben lassen, der sich damit auskennt.

    www.deutschlandfun...:article_id=460287

  • Ja wie? - Wer - bitte - kommt denn auf das schmale Brett.

    Daß uns exMielke-auf-Rädern ein Demokrat - Gar an der Materialisierung der Bürger-Menschenrechte des Grundgesetzes! Interessiert sei - oder etwa gar deren sozialen Verwirklichung?! - 👹 -

    So geht das

  • Natürlich fahren zur Ratssitzung „Lösungen für die Klimakrise“ einige Mitglieder mit dem SUV vor, egal ob bei reinem Losverfahren oder bei repräsentativer Stratifizierung. Die haben allerdings auch jetzt das Wahlrecht.

    Der Sinn bestünde ja gerade darin, diese zum einem mit dem Thema vertrauter zu machen - warum ist es schlecht, was da hinten herauskommt?

    Der zweite Zweck ist es, gemeinsam Lösungen für ihre Bedürfnisse zu suchen, die gesellschaftsverträglicher sind.



    Wollen Sie aufrechter sitzen? Fehlt ihnen wegen getönten Heckscheiben anderer Autos der Überblick? Müssen sie zweimal im Jahr etwas transportieren? Verleiht Ihnen das größere Gewicht ein größeres Sicherheitsgefühl? Haben die Straßen zu viele Schlaglöcher? Ist einfach der Standard ihres Arbeitgebers für ihre Gehaltsklasse?

    Vielleicht kommt dann eine Sondersteuer oder ein Verbot für getönte Heckscheiben heraus, womit auch kleinere Autos den Überblick behalten - eine Lösung, auf die ein nicht autofahrender Aktivist nicht kommen würde. Und dazu ein Anti--Schlagloch-Programm sowie eine an das Gewicht gekoppelte Tempogrenze, und schließlich eine Quote für die Nutzung erneuerbarer Energien?

    Nicht vergessen: Unsere jezigen Strukturen haben spritfressende SUVs und deren steuerliche Bevorzugung nicht verhindert. Obwohl auch die 90% nicht-SUV Fahrer wählen dürfen.

  • Herr Amjahid, warum sollten SUV-Fahrer nicht mit Radfahrern an einem Tisch diskutieren, oder Maskulinisten mit Femininisten? Diese Gruppen gibt es, und sie gehören zur Gesellschaft.

    Und was haben Sie gegen Kompromisse? Das ist eine der größten Erfindungen der Menschheit: daß sich unterschiedliche Positionen VERBAL zusammenraufen und ein Ausgleich gesucht wird.

    Ich hätte deutlich größere Bedenken bei Räten, die allesamt einer einheitlichen Ideologie: z.B. der Identitätspolitik und dem Intersektionalismus verpflichtet worden sind.

    • @Weber:

      Das wäre in der Tat gruselig.

  • 0G
    05838 (Profil gelöscht)

    Der Gedanke ist schon alt.

    de.m.wikipedia.org/wiki/Demarchie

  • Ja gut aber wo sind die Gegenvorschläge?

    Ich zB fand nix gegen den Klimawandel zu tun und die Gesellschaft nicht grüner zu machen schon vor bestimmt 20 Jahren doof. Auf die Straße bin ich aber auch nicht gegangen....

    Werden die inherenten Lösungen einer spezifischen Räteimplementation jemals angesprochenen? Mathematisch Zufällige Auswahl nicht representativ? Mehr Leute in den Pool und mehr Leute in den Rat!

  • 0G
    05838 (Profil gelöscht)

    Der Zufall ist demokratischer als der Status Quo.

  • Elitäre Sichtweise des Autors.



    Bloß keine Mitbestimmung. Vorsicht, böses Volk. Solche Haltung findet man auch bei Belarus-Präsidenten oder Gewerkschaftshassern.



    Das von Victor Venema erwähnte irische Beispiel bereitete u.a. die Reform des Abtreibungsrechts und die Homo-Ehe im tiefkatholischen Inselstaat vor.



    Das Volk ist besser als sein Ruf.

  • Es zeigt sich, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung sich vernünftig ist. Zudem scheinen solche Räte resistenter gegen Lobbyisten und Klientelpolitik zu sein, da sie sich nicht um eine Wiederwahl bemühen müssen. Alles in allem, doch ein vielversprechendes Konzept!

  • Der Artikel hört sich anti-demokratisch an. Es hört sich an als ob das Problem ist, dass man die Bevölkerung nicht vertrauen kann. Alle Souveränität geht von der Bevölkerung aus. In den Parlamenten sitzen auch Leuten die Meinungen vertretenen die ich komische finde; das ist Demokratie.

    In Irland haben sie gute Erfahrung von solchen Räten gemacht, auch wenn es um Klimawandel geht. Die Idee, dass man die Bevölkerung das Klima weniger anvertrauen kann als der Bundestag ist ziemlich abstrus.



    en.wikipedia.org/w...Assembly_(Ireland)

    Menschenrechte stehen hier nicht mehr in Frage als sonst. Die Räte beraten die Politik, beschließen keine Gesetze, stehen nicht über die Gerichte, stehen nicht über die Verfassung.

    Falls es gute Argumente gegen solche Räte gibt höre ich die gerne. Ich habe sie nicht in diesem Artikel gefunden.

    • @Victor Venema:

      so ist das: die mehrheit der bevölkerung ist im wahrheit dumm und/oder bösartig. bis ein sicheres verfahren gefunden ist diese personen zu identifizieren und von der politischen beteiligung auszuschließen bleibt die demokratie ein schlechtes, aber immer noch besseres verfahren, als alle bisher ausprobieren alternativen.

      • @kipferl:

        Stimmt, es ist ja auch zutiefst demokratisch Leute auszuschließen. Man man man - eigenartiges Verständnis von Demokratie.

      • @kipferl:

        Dumme und bösartige Leute schreiben viele Posts auf Facebook. Die netten haben ein Leben. Die schlauen lesen die TAZ oder ein Buch. ;-)

        Aber schaue einfach in deiner eigenen sozialen Umgebung. Die überwältigende Mehrheit der Leute sind vernünftig. Die Idioten und Chaoten ziehen nur leider mehr Aufmerksamkeit auf sich. Es ist leichter etwas kaputt zu machen als etwas besser zu machen und was kaputt ist zieht unsere Aufmerksamkeit.

  • "Ich – als Nafri – vertraue diesen ganzen Bürger*innen nicht.....Noch fataler als uninformierte Entscheidungen sind aber in Deutschland sehr gut informierte und geplante Kompromisse."

    Sorry, für die Deutlichkeit. Wenn man allen Bürgern um sich herum nicht traut und scheinbar auch generell nichts von Kommpromissen hält, dann hat man wohl eher ein persönliches Problem und dazu noch ein schwieriges Demokratieverständnis.

    Ich vertaue zumindest vielen politisch und ehrenamtlich engagierten Menschen mehr, als einem Großteil der Bundestags. Dass ein Bürgerrat aus lauter Rassisten bestehen könnte, der dann im Parlament einen Reformvorschlag zur "Abschaffung der Nafris" durchboxt, ist für mich nicht weniger paranoid als rechtes Volkstod-Geschwafel.