Roman „Die Sommer“ von Ronya Othmann: Über Tellerminen hüpfen
Verfolgung traumatisiert, das spüren auch die Kinder geflüchteter Eltern. Eindringlich erzählt Ronya Othmann davon in ihrem Roman „Die Sommer“.
Junge Frauen, die in Ländern groß werden, wo Frieden, Wohlstand und Gleichberechtigung auf den Bäumen wachsen, machen alle dasselbe: sich auf Partys langweilen, die Fußnägel lackieren, Bücher lesen, Serien gucken, Frauen knutschen, rauchen, lästern, sich einsam und unverstanden fühlen, keine Hausaufgaben.
In Deutschland gibt es unter diesen jungen Frauen aber einige, in deren Elternhaus andere Nachrichten laufen als in den meisten anderen Wohnzimmern. Es sind die Kinder von Geflüchteten, die zwischen der Welt der Eltern und der Welt ihrer Vorstadtjugend festklemmen.
Die Autorin und Journalistin Ronya Othmann hat in ihrem Romandebüt „Die Sommer“ eine solche junge Frau porträtiert, autobiografische Anleihen eingeschlossen. Leyla, die bei München lebt, ist die Tochter eines jesidischen Kurden aus dem Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei und einer deutschen Mutter aus dem Schwarzwald.
Als Kind verbringt sie jeden Sommer in dem kleinen Dorf der jesidischen Großeltern – „die Berge im Norden, die Ölpumpen im Osten und Süden, die Straße nach Tirbespi im Westen“ – eine Gegend, wo man Fische mit Tellerminen angelt, die man aus dem Grenzstreifen ausgebuddelt hat.
Soziale Intelligenz und Aberglauben
Leyla hängt am Rockzipfel der Großmutter, die ihr alles beibringt: wie man Schoten auffädelt, Schlangen vertreibt, wie man so sitzt, dass der Rock zu jedem Zeitpunkt das Knie bedeckt, und dass man Kindern die Haare erst schneidet, wenn sie sprechen können. „Scham kennen ist wichtig und keinen Blattsalat essen“ ist eine von Großmutters Lebensweisheiten. Mit dem Satz ist auch sie selbst am besten charakterisiert: ihre große soziale Intelligenz, die sich mit einer großen Portion Aberglauben paart. Warum keinen Blattsalat? Lesen Sie das Buch!
Leser*innen der taz kennen Ronya Othmann aus ihrer Kolumne „Orient Express“, in der sie gemeinsam mit Cemile Sahin über deutsche Außenpolitik im Nahen Osten schreibt. Die 1993 geborene Münchnerin hat aber auch schon den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2019 und etliche andere Preise und Stipendien für Prosa und Lyrik gewonnen.
Ronya Othmann: „Die Sommer“. Hanser, München 2020, 288 Seiten, 22 Euro
Geschickt verknüpft sie in ihrem Debüt schöne Kindheitserinnerungen an die Heimat des Vaters mit dessen eigenen, nicht so schönen Erinnerungen daran. Sobald der Vater eine Papierserviette in die Hände kriegt, malt er kleine Quadrate darauf, einige mit Kreuzen drin, die die Minen auf dem Grenzstreifen symbolisieren sollen („Wer danebentrat, der verlor einen Arm, ein Bein, sein Leben“). Leyla überträgt sein Papierserviettenspiel auf Steinplatten von Gehwegen, Straßen und Höfen, über die sie läuft: Die Fugen der Platten sind Minen. Wer drauftritt, ist tot.
Othmann schafft einen Einblick in eine Welt, die wir auf den ersten Blick zu kennen meinen. Sie ähnelt der Welt europäischer Großeltern in ländlichen Regionen mit ihrem konservativen Welt-, Männer- und Frauenbild. Aber anders als die Welt von bayerischen oder hessischen Großmüttern, ist die Welt von Leylas Familie väterlicherseits fast ausgelöscht, durch den Terror des islamistischen IS: „Ab 2011 wurde der Fernseher nicht mehr ausgeschaltet.“
Keinen Frieden finden
Der Massenmord an den Jesiden, den Othmann im zweiten Teil des Romans thematisiert, macht aus der ganz normalen jungen Frau ihrer Generation einen Menschen, der keinen Frieden mehr findet. Nicht nur ist sie durch das Schicksal ihrer Familie und die versuchte Vernichtung ihrer Ethnie traumatisiert, fast noch stäker durch die Teilnahmslosigkeit und das Unverständnis ihrer Freundinnen, ihrer Kommilitoninnen, ihrer deutschen Umwelt.
Während der Roman aber Leylas Mutter völlig unbeleuchtet lässt, ist neben der ausgiebig beschriebenen Großmutter der Vater die stärkste Figur. Als politischer Flüchtling, der im Gefängnis war und gefoltert wurde, landet er 1980 in Deutschland, wo er nie richtig ankommt: „Sein Lächeln außerhalb des Hauses ähnelte dem nachgeahmten Bayrisch der Mutter, eine Art Hut, den man aufsetzte, wenn man das Haus verließ, ein Regenschirm, ein Gebrauchsgegenstand für die Außenwelt.“
Nicht zuletzt der Rassismus, den er hier erfährt, macht aus ihm einen komischen Kauz, der den Europäern die Schuld am Scheitern eines kurdischen Staates gibt und seiner Tochter ob ihrer schlechten Schulnoten vorwirft, ihren Eltern nicht dankbar genug zu sein.
Gemessen an einer Kämpferin
Der Roman verarbeitet das Thema Identität ohne den üblichen Kitsch, mit dem so oft über Herkunft geschrieben wird. Eine der stärksten Stellen dazu ist die Geschichte hinter Leylas Namen und wie sie aufgelöst wird. Leyla wurde von ihrem Vater nach drei anderen Leylas benannt: kurdischen Kämpferinnen bzw. Politikerinnen, eine davon war seine Geliebte. „Ihr [Leylas] Leben, ihre Geschichte wurden an ihrem Namen gemessen. Leyla dachte, dass ihr Name nicht ihr gehörte. Sie gehörte dem Namen.“
Beispielhaft für den reduzierten Erzählstil von Ronya Othmann ist auch die Art und Weise, wie Leylas Affäre mit der Barkeeperin Sascha zu Ende geht: Die beiden setzen sich auf eine Bank, rauchen, sagen sich gegenseitig, dass es nicht mehr geht, stehen auf und gehen. Um dieses jedem bekannte Drama zu schildern, braucht Othmann gerade mal einen Absatz. Aber dieser Absatz erzeugt eine so große Druckwelle, dass der Leserin die eigenen Erfahrungen solcher Lebensabschnitte in die Erinnerung gepresst werden.
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