DIHK-Experte über Brexit: „Warteschlangen an den Grenzen“
Auf die deutsche Wirtschaft kommen durch den Brexit große Probleme zu, warnt Volker Treier vom DIHK. Ohne Abkommen würde es noch schlimmer.
taz: Herr Treier, wie wahrscheinlich ist ein „harter Brexit“ ohne Handelsabkommen?
Volker Treier: Die deutschen Unternehmen sollten sich darauf einstellen, dass es gar kein Abkommen geben könnte. Aber selbst wenn ein „harter Brexit“ vermieden würde: Schon jetzt steht fest, dass es in vielen Bereichen zu Änderungen kommt.
Warum sind Sie so pessimistisch?
Es dauert sehr lange, umfassende Freihandelsverträge auszuhandeln. Das EU-Abkommen mit Kanada, Ceta, hat mehr als sieben Jahre gedauert, bis es verabschiedet war. Und mit den Briten wünschen wir uns aufgrund der geografischen Nähe noch weitaus intensivere wirtschaftliche Beziehungen.
Der 51-jährige Volkswirt ist Außenwirtschaftschef und Mitglied der Hauptgeschäftsführung beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK).
Was bedeutet es für die deutschen Unternehmen, wenn die bewährten Absprachen mit den Briten plötzlich fehlen?
Allein die Umstellung auf die neuen Zollformalitäten und die Bearbeitung der Zollanmeldungen werden die deutschen Unternehmen mehrere Hundert Millionen Euro kosten – pro Jahr.
Wird der Handel zwischen Europa und Großbritannien einbrechen?
Der DIHK hat eine Umfrage unter Unternehmen durchgeführt, die Geschäftsbeziehungen mit Großbritannien unterhalten: 58 Prozent dieser Firmen bezeichnen die Aussichten als „schlecht“. Das war noch vor Corona.
Macht sich der Brexit bereits bemerkbar?
Im ersten Halbjahr 2020 sind die deutschen Exporte nach Großbritannien um über 20 Prozent eingebrochen. Zum Vergleich: Die deutschen Ausfuhren in die EU sind im gleichen Zeitraum deutlich weniger zurückgegangen. Daran sieht man: Der Brexit wirft seine Schatten bereits voraus.
Deutsche Unternehmen haben 160 Milliarden Euro in ihre Niederlassungen in Großbritannien investiert. Was passiert mit diesen Töchtern?
Im Moment wird erheblich weniger investiert. Zudem planen bereits 15 Prozent der deutschen Unternehmen, ihre Investitionen aus Großbritannien zurückzuverlagern.
Hat dieser Abzug schon begonnen?
Erste Firmen haben angefangen, ihre Firmenzentralen auf den europäischen Kontinent zu verlagern, weil sie auch nach dem Brexit im europäischen Binnenmarkt bleiben wollen.
Haben Sie Angst, dass die Briten Dumping betreiben könnten, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen?
Das ist ein Thema der aktuellen Verhandlungen. Für die deutsche Wirtschaft ist es sehr wichtig, auch künftig unter fairen Wettbewerbsbedingungen mit Großbritannien Handel betreiben zu können.
Die Briten fürchten, dass sie ihre eigene Souveränität verlieren könnten, wenn sie sich auf gemeinsame Standards einlassen. Nach dem Motto: Immer wenn die EU ihre Vorschriften ändert, müssten sich die Briten automatisch anpassen.
Ziel der laufenden Verhandlungen ist es, Mindeststandards festzulegen. Aber dazu scheint die britische Seite bisher nicht bereit. Gleichzeitig wollen sie aber, dass es keine Zölle gibt. Auf Zölle kann man aber nur verzichten, wenn man im fairen Wettbewerb ist. Darum braucht es gemeinsame Standards. Daher finden sich ja Vereinbarungen zu Standards in allen Freihandelsverträgen mit Drittstaaten.
Eine andere Sorge der Briten: Wenn es zu Streit kommt, könnte am Ende wieder der EuGH entscheiden.
Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein sind auch nicht in der EU. Dort gibt es ein Streitschlichtungsverfahren, bei dem der EuGH nicht eingeschaltet ist. Ein ähnliches Verfahren ist auch für Großbritannien denkbar. Das Thema Streitschlichtung sollte daher aus Sicht der deutschen Wirtschaft eigentlich nicht zu den großen Knackpunkten bei den Brexit-Verhandlungen gehören.
Die Briten haben lange darauf vertraut, dass die deutschen Unternehmen Druck auf Kanzlerin Merkel machen würden, sich möglichst schnell mit den Briten zu einigen. Schließlich hängen 750.000 Arbeitsplätze in Deutschland am Export nach Großbritannien. Gibt es diesen Druck?
Unsere Umfragen zeigen, dass für 85 Prozent der deutschen Unternehmen der europäische Binnenmarkt absolute Priorität hat. Dafür sind die Firmen bereit, auch ökonomische Nachteile im Handel mit den Briten in Kauf zu nehmen.
Wie immer die Brexit-Verhandlungen ausgehen: Künftig gibt es eine Zollgrenze zwischen der EU und Großbritannien. Was bedeutet das?
Kommt es zu einer Zollgrenze, sollten sich die Unternehmen darauf einstellen, dass Warteschlangen an den Grenzen entstehen. Vor der Coronapandemie passierten täglich 12.000 Lkws die Strecke zwischen Dover und Calais. Im Tunnel oder auf den Fähren. Wenn die Abfertigung pro Lkw beispielsweise nur zwei Minuten länger dauert, ergibt das schnell kilometerlange Staus auf beiden Seiten.
Und wie wird Irland versorgt? Bisher werden 80 Prozent auf dem Landweg durch Großbritannien transportiert.
Großbritannien würde zum Transitland. Eigene Fahrspuren für Lkws und eigene Abfertigungsvorrichtungen in den Häfen Dover und Calais wären erforderlich. Die gibt es aber bisher nicht in ausreichendem Maße.
Wäre eine Direktverbindung von Irland in die EU denkbar?
Bisher gibt es eine Fähre pro Woche von Dublin nach Rotterdam. Europa muss hier schleunigst was tun.
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