Weibliche Proteste in Belarus: Blumen gegen Knüppel
Frauenpower statt Schnauzbart: Im Protest gegen Lukaschenko entdeckt Belarus seine weibliche Seele – stark und hartnäckig.
M aria Kalesnikawa steht vor Stacheldraht, dahinter Männer in Kampfmontur. In Militärformation bewachen die Soldaten das Stella-Denkmal im Herzen von Minsk. Eigentlich wollte Kalesnikawa hier gemeinsam mit Mitstreitern des neu gegründeten Koordinationsrats ihre Pläne für einen friedlichen Machtübergang in Belarus vorstellen. Doch an Reden ist jetzt nicht zu denken. Stattdessen gestikuliert Kalesnikawa. Sie hält die Menschenmassen davon ab, sich den Soldaten weiter zu nähren. Bloß keine Eskalation. Alles muss friedlich bleiben.
Diese Szene hat Symbolcharakter: Es sind nicht die beiden Männer neben ihr, der eloquente ehemalige Kulturminister Pavel Latushka oder der bullige Streikführer Sergei Dylewski, die die Führungsrolle ergreifen. Wie bei so vielen entscheidenden Situationen in den letzten Wochen ist es eine Frau, die in Belarus Ton und Richtung vorgibt.
Auf den ersten Blick mag das verwundern: Wenn man an Belarus denkt, denkt man zuerst an Traktoren, Kartoffeln und natürlich an Langzeitdiktator Alexander Lukaschenko. Oftmals scheint es, als sei der Schnauzbart des Machthabers Identität und Gründungsmythos dieser Nation zugleich. Lukaschenko, der das Land quasi seit der Unabhängigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion regiert, dominiert das Land nicht nur politisch. Er versucht es auch kulturell zu prägen. Das reicht von altbackenem Sowjet-Symbolismus bis hin zu offen zur Schau gestellter Maskulinität aus dem Antiquariat.
„Das Weibliche“ findet bei Lukaschenko nicht nur im Privaten nicht statt, es wird auch im Öffentlichen nivelliert und auf Ästhetik reduziert. So umgibt er sich bei Fototerminen gerne mit adretten jungen Frauen, verschließt ihnen aber auch Ministerien und Botschaftsjobs. Und das, obwohl (oder gerade weil) Lukaschenko um die Stärke und Hartnäckigkeit belarussischer Frauen weiß.
ist Doktorand für Politische Ökonomie am King’s College London und Generalsekretär des internationalen liberalen Jugendverbandes IFLRY (International Federation of Liberal Youth). Er lebt in London und Minsk.
Geschichtsschreibung im Exil
Denn auch er kennt die alten Sagen: Die mittelalterlich-volkstümliche Legende von Rogneda von Polozk erzählt, wie Großfürst Wladimir I. die junge Rogneda vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigt und demütigt, die Eltern daraufhin ermordet und letztendlich Rogneda verschleppt und ehelicht. Als sich Rogneda eines Nachts mit einem Dolch bewaffnet in die Gemächer Wladimirs schleicht, wird dieser Akt der späten Vergeltung nur knapp vereitelt.
Alexander Lukaschenko, Langzeitdiktator und Schnauzbart
Die Charakterstärke Rognedas findet sich bis heute im Selbstverständnis der Belarussinnen, mussten ja auch sie über alle weiteren Generationen Leid und Kummer über sich ergehen lassen. Die mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch machte es sich zur Aufgabe, diesen Frauen literarisch eine Stimme zu verleihen. Sie schreibt über die Gräueltaten Stalins, den Afghanistankrieg und die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl.
Alexijewitsch gibt Einblicke in die Leidensfähigkeit und Stärke der Belarussinnen. Am deutlichsten wird dies in ihrem Werk „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“. Dort dokumentiert sie die Schicksale sowjetischer Frauen während des Zweiten Weltkriegs und arbeitet ihre vergessenen Heldentaten heraus. Da diese Art der Geschichtsschreibung wenig mit Lukaschenkos Vorstellungen gemein hat, verwundert es nicht, dass Alexijewitsch lange im Exil leben musste.
Und auch von Politik hat Lukaschenko klare Vorstellungen: Als sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen Swetlana Tichanowskaja nach der Festnahme ihres Ehemanns zur Protestkandidatur entschließt, kanzelt Lukaschenko sie öffentlich ab: „Unsere Verfassung ist nicht für eine Frau gemacht“, lässt der Schnauzbart verlauten. Großspurig mutmaßt er, dass das „arme Ding“ unter der Last einer Präsidentschaft zusammenbräche.
Hupkonzerte und Solidaritätsketten
Doch Tichanowskaja und ihre Mitstreiterinnen Maria Kalesnikawa und Veronika Zepkalo lassen sich nicht einschüchtern. Das Frauen-Trio löst innerhalb kürzester Zeit eine noch nie da gewesene Wechselstimmung im Lande aus. In Minsk strömen mehr als 60.000 Menschen zu den Veranstaltungen. Der Macho im Präsidentenpalast muss geschäumt haben. Denn nachfolgend setzt das Regime alles daran, den Wahlkampf der sogenannten „Drei Grazien“ zu sabotieren.
Nachdem am Wahlabend die dem Präsidenten hörige Wahlkommission die gewünschten Fantasiezahlen präsentiert, kommt es zu Protesten im ganzen Land. Die brutale Repression der Omon-Truppen wird mit Musik, Hupkonzerten und Solidaritätsketten gekontert. Das geht vor allem den männlichen Teilen der Protestbewegung nicht weit genug, der Ton in den Telegramgruppen wird schärfer. Der im Ausland lebende Blogger Stepan Putilo ruft zur Konfrontation mit den Einsatzkräften auf.
Diese Eskalationsstrategie wird von den Frauen jedoch nicht toleriert: Sie rufen zu Frauenmärschen auf. Weiße Kleidung soll deeskalieren und das martialisch überzeichnete Pseudomaskuline entwaffnen: Blumen statt Baseballschläger. Symbolfigur dieses friedlichen Protests wird Nina Baginskaja. Die 73-jährige geht seit Jahrzehnten gegen „den Schnauzer“ auf die Straße, bewaffnet nur mit der weiß-rot-weißen Fahne eines unabhängigen Belarus. Als Polizisten ihr die Fahne entreißen, kommt sie am nächsten Tag wieder. Mit einer kleineren Fahne. Jedoch mit noch mehr Stolz und Würde.
Rogneda, Swetlana Alexijewitsch, Nina Baginskaja, Swetlana Tichanowskaja, Vernonika Zepkalo, Maria Kalesnikawa. Diese Namen stehen für Mut und Solidarität, für Wehrhaftigkeit und Friedfertigkeit, für die belarussische Seele. Den Männern bleibt die Rolle der Geschichtenschreiber. Wie damals Nestor von Kiew, der die Sage von Rogneda für die Nachwelt aufzeichnete. Mögen die Frauen des Sommers 2020 in ähnlicher Weise in die Mythologie eingehen. Sie erzählen auf jeden Fall eine bessere Geschichte als die des Schnauzbarts.
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