Explosion in Beirut: Wenn sich der Zorn entlädt
Die Explosion von Beirut ist eine Zäsur: Sie könnte die Günstlingswirtschaft im Libanon beenden und die Revolte befördern.
N achdem der erste Schock vorbei war, wurden die Libanesen von einer unglaublichen, schier homerischen Wut ergriffen angesichts von Fahrlässigkeit, Korruption und krimineller Unterlassungssünden der „Verantwortlichen“, deren Verhalten zur Zerstörung der Hälfte von Beirut geführt hat.
Nichts vermag sie zu trösten, nichts zu befrieden, sie würden diejenigen, die sie regieren, am liebsten eigenhändig erwürgen. Der eigentlich vernünftige Fifi Abou Dib, Leitartikler der französichsprachigen Tageszeitung L`Orient-le-Jour, fordert, dass die „verzweifelten Massen schon einmal den Galgen vorbereiten“, der Blogger Samer Frangie schlägt vor, man möge die Glasscherben, die auf den Straßen liegen, aufsammeln und aufbewahren und – sollte der Tag kommen – in die Gräber der Verantwortlichen werfen.
Ein anderer schlägt angesichts von Hundertausenden Beirutern, die sich jetzt auf der Straße wiederfinden, vor, die Luxushotels der Regierenden anzugreifen, um diese aus ihren Betten zu zerren. Erst dann könne man von einer Revolution sprechen. Und der Schriftsteller Elias Khoury schreibt: „Wir werden euch mit unseren brennenden Körpern konfrontieren, mit unseren von Blut verschmierten Gesichtern und ihr werdet mit uns in diesen Ruinen untergehen.“ Der Journalist Antoine Courban, der bei der Explosion nur leicht verletzt wurde, konnte seine Wut nur ausdrücken, indem er auf Facebook ohne weiteren Kommentar eine endlose Tirade Schimpfwörter postete – und davon hält die arabische Sprache weit mehr bereit als das Deutsche oder das Französische.
Für diejenigen, die immer noch so tun, als ob sie im Namen des libanesischen Volks sprechen, ist die zugesagte internationale Hilfe ein Glücksfall. „Zweifellos reiben sie sich schon die Hände angesichts der Hilfen, die kommen werden“, schreibt Fifi Abou Dib. Das geballte Unglück, das sie über uns gebracht haben, hat auch die letzten Steine am Ende der Welt umstürzen lassen. Zweifellos verhandeln sie schon über die Verteilung und darüber, wie viel jede Gemeinschaft bekommen wird, die sie selbst verkörpern.
„Nehmt unseren Präsidenten mit“
Schon einen Tag nach dem Drama reiste Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach Beirut, um sein Mitgefühl auszudrücken. „Wenn ihr uns helfen wollt“, schreibt ihm ein Blogger, „dann nehmt unseren Präsidenten in euren Koffern mit und befreit uns von ihm.“ Sowohl in den sozialen Netzwerken als auch im Radio und im Fernsehen ist nur noch das Wort frei in diesem ruinierten und zerstörten Land.
Nach 20 Jahren Abwesenheit wegen einer gewissen Abscheu hatte ich im vergangenen Oktober ein Flugzeug nach Beirut genommen. Das ist erst neun Monate her, erscheint mir aber heute wie eine Ewigkeit. Die „Revolution“ begann an Fahrt aufzunehmen und ich traute meinen Augen nicht: Menschen aller Konfessionen marschierten Seite an Seite, blockierten öffentliche Plätze, organisierten Menschenketten von Norden nach Süden und schrien ihren Regierenden entgegen: „Alle! Alle heißt auch wirklich alle!“
Das politische System, das auf der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft fußt und so viele Krisen und Kriege überlebt hat, brach in den Köpfen auf einen Schlag zusammen. Wie in einer Art Erleuchtung, sei es nun bei Christen, Drusen, schiitischen oder sunnitischen, hatte die Bevölkerung plötzlich eins begriffen: Dass die Machthaber, fast alle ehemalige Chefs der Kriegsmilizen, die dann in die Politik gegangen waren, ein Kartell gebildet hatten, das sich den Kuchen aufteilte und dank einer allgemeinen Günstlingswirtschaft jedem von ihnen Einfluss auf „seine Gemeinschaft“ sicherte.
Da überwiegend aus dem Ausland finanziert, funktionierte diese Günstlingswirtschaft aber nicht mehr. Saudi-Arabien wollte nicht mehr für „seine“ sunnitischen Libanesen zahlen, weil es Riad widerstrebte, Geld in ein Land zu schicken, das zu Recht als zu drei Viertel von Iran kontrolliert gilt. Der Iran, stranguliert durch US-Sanktionen, hatte nicht mehr genügend Geld, um für „seine“ Schiiten zu bezahlen. Hinzu kam eine bedeutende Finanzkrise, da der libanesische Staat seine Ausgaben finanzierte, indem er über die Zentralbank höhere als die marktüblichen Zinsen anbot.
Die Ponzi-Masche
Die Rückzahlung von Schulden wurde durch neue Anleihen finanziert. Das ist das bekannte betrügerische Schema, die sogenannte Ponzi-Masche (benannt nach dem italienischen Immigranten in den USA, Charles Ponzi, einem der größten Betrüger seiner Zeit; d. Red.,) die eines Tages zusammenbrechen musste. Und genau das ist passiert. Doch was auch immer der Ursprung gewesen sein mag: Die abgesahnten Gelder füllten nicht nur die Taschen der Regierenden, sie finanzierten auch deren weit verzweigte einflussreiche Netzwerke – will heißen; das System der Günstlingswirtschaft an sich.
Als die Ressourcen versiegten, wurden die Schwierigkeiten für die normalen Bürger, bis zum Monatsende über die Runden zu kommen, einen Arbeitsplatz zu finden, eine Wohnung zu mieten, die Kinder in die Schule zu schicken und für die medizinische Versorgung zu zahlen, unerträglich.
Nach der Explosion – Eine Familie in Beirut
Dreißig Jahre nach dem Bürgerkrieg schaffte es der Staat nicht, den Abfall wegräumen zu lassen oder die Menschen kontinuierlich mit Trinkwasser und Strom zu versorgen. Ganz zu schweigen von dem bitteren Elend derer, die völlig mittellos sind, und den Kindern, die auf der Suche nach etwas Essbarem den Müll durchwühlen. Plötzlich und überstürzt gab es einen allgemein Überdruss, genug ist eben genug und die Wut ist explodiert. Es braucht schon Schläue, um diese Wut wieder einzufangen.
Wie haben die Machthaber reagiert? Sie gingen in Deckung und hofften darauf, der Bewegung werde langsam die Luft ausgehen. Sie schickten Flegel, um den Aufstand niederzuschlagen und Zusammenstöße zu provozieren, die den gewaltlosen Geist, der eben diesen Aufstand beseelt hatte, zu zerstören. Und sie führten ein Bankensystem ein, das den Menschen nur in ganz begrenztem Ausmaß den Zugang zu ihrem eigenen Geld ermöglichte.
Zeichen des Protestes ausgelöscht
Gleichzeitig verflüchtigten sich die Milliarden Euro der Mächtigen in Richtung ausländischer Konten. Als die Coronakrise ausbrach und die Menschen zu Hause bleiben mussten, profitierte die Staatsmacht auch davon: Plätze wurden geräumt und alle Zeichen des Protests, die noch da waren, ausgelöscht. Man tat so, als sei nichts gewesen.
In den Ruin getrieben, hat sich der Staat letztlich in der Zahlungsunfähigkeit wiedergefunden und die nationale Währung ist eingebrochen. Von einem Tag auf den anderen stürzte dies die Bevölkerung in extreme Armut. Wenn dann der Bestand von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, wiederholten Warnungen zum Trotz illegal im Hafen von Beirut eingelagert, detoniert und dabei die Hälfte der Stadt zerstört, versteht man, warum Mordlust einen guten Teil der Bevölkerung erfasst hat. Aber wenn die Ablehnung auch allgemein ist, sie zielt im Besonderen auf die Hisbollah, die, wie stadtbekannt ist, vor einigen Jahren die Kontrolle über einen großen Teil des Beiruter Hafens übernommen hat. Fern jeder Kontrolle durch die Staatsgewalt hat es ihr diese Aneignung erlaubt, Waffen und Flugkörper in das Land zu schleusen, die ihr der Iran liefert, unter dem Vorwand des „Kampfes gegen Israel“.
Jede Reform des libanesischen Systems stößt unweigerlich auf die Frage nach den Waffen der Hisbollah, die die schiitische Organisation behauptet zu bewahren, komme was wolle. Nun hat der alternde (christliche) Präsident der Republik, Michel Aoun, genau wie sein gieriger Schwiegersohn, der davon träumt, ihn abzulösen, einen Bund mit der Hisbollah geschlossen und hat damit eine Machtstruktur zementiert, die fast unmöglich aufzubrechen ist – während die Leute auf der Straße Hunger haben.
Explosionspilze mit Turban
Die Kontrolle des Hafens hat der „Partei Gottes“ auch erlaubt, wesentliche Vorteile daraus zu schlagen, dass das Gros der im Libanon verbrauchten Produkte über diesen Weg eingeführt wird. Da sie für den Tatort, den Hafen, wo sich die entsetzliche Explosion ereignet hat, zuständig ist, hat die schiitische Partei infolgedessen eine besondere Verantwortung. Eine in den sozialen Medien weit verbreitete Karikatur zeigt das Bild der pilzförmigen Explosion frisiert mit dem Turban der Ajatollahs – und dem Untertitel: „Raus!“
Aber wir müssen kurz auf den Ausgangspunkt zurückkommen, die besagte Revolution des 17. Oktober 2019, die zwar die Libanesen wie noch nie zusammengebracht hat, sich aber als unfähig herausstellte, die herrschende Ordnung umzustoßen. Dank der sozialen Netzwerke hat ihre horizontale Struktur das Entstehen und die Verbreitung Tausender Initiativen erlaubt. Gleichzeitig verbot sie logischerweise das Auftauchen einer Führung, die in ihrem Namen gesprochen hätte. Diese Bewegung wollte keinen Chef. Sie spürte, dass sie ihre Seele und spezifische Besonderheit verloren hätte, wenn sie die Repräsentationsmacht an bestimmte Personen delegiert hätte.
Das war ihre Stärke, aber offensichtlicherweise auch ihre Schwäche – besonders angesichts von Haifischen, die lieber ihr Land untergehen lassen würden, als die Macht abzugeben. Beinahe alle Volksaufstände dieses Jahrhunderts, von den USA über Chile bis zum Arabischen Frühling, sind auf dieselbe Art und aus denselben Gründen gescheitert. Nur in Tunesien lief es anders, nicht ohne Schwierigkeiten, genau wie im Sudan, wo die Berufsverbände im Verborgenen agierend, ein Gegengewicht zu bilden, das den Lauf der Dinge beeinflussen kann. Für alle anderen läuft es schlecht, aber die Partie ist noch nicht zu Ende gespielt.
Ungeachtet der Enttäuschungen und Frustrationen, zeigt das unaufhörliche Wiederaufleben dieser Art der Revolte, dass die Staatengemeinschaft dabei ist, einen Ausweg zu finden, während sich der Kapitalismus, der uns regiert, kaum fähig zeigt, den großen Herausforderungen zu begegnen. In dieser Hinsicht sind die Libanesen gezwungen, trotz des Schmerzes, der Toten und der Obdachlosigkeit von Hunderttausenden ein bisschen mehr als die anderen zu suchen. Es ist ihre traurige Ehre. Denn was sich im Libanon abspielt, ist größer als der Libanon.
Aus dem Französischen Eva Oer und Barbara Oertel
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