: Licht ins Dunkel bringen
Unter den Coronaregeln leidet auch der Verein Berliner Unterwelten. Das betrifft besonders die freien Mitarbeiter der Führungen, die entlassen wurden. Es gibt Kritik an der Führung des Vereins
Von Katja Kollmann
Das Maskottchen des Berliner Unterwelten e. V. ist ein Bär, der leichtfüßig eine Treppe hinabsteigt. In der Tatze hält er eine Taschenlampe, mit der er den dunklen Treppenschacht beleuchtet. 2017 feierte der Berliner Unterwelten e. V. sein 20-jähriges Jubiläum. In den Jahren nach der Wende hatte er lang vergessene U-Bahntunnel und ehemalige Brauereikeller aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wieder entdeckt und zugänglich gemacht, ebenfalls Luftschutzanlagen aus dem Zweiten Weltkrieg sowie Fluchttunnel aus der Zeit des Kalten Kriegs.
Zum Jubiläum blickten einige der Gründungsmitglieder in einer vom Verein produzierten Doku zurück in die Anfangszeit. Wichtig war 1997, „zu verhindern, dass Bunker tiefenenttrümmert und Tunnel verfüllt werden“, betonte Dietmar Arnold, seit 1999 Vorsitzender des Vereins. Ein enorm wichtiges Projekt war einige Jahre später die Begehbarmachung der Flakturmruine im Volkspark Humboldthain. „Solche Projekte zu stemmen, wäre ohne die ehrenamtliche Mitarbeit der vielen Mitglieder gar nicht möglich gewesen“, stellte Reiner Janick fest. Swantje Gock war im Jahr 2017 immer noch begeistert von der zur Realität gewordenen Idee: „Man kann in den Anlagen des Vereins Geschichte anfassen.“ Und der damalige Finanzvorstand Andreas Körner resümierte: „Wir haben den Erfolg, weil wir zur richtigen Zeit das richtige Thema gefunden haben. Wir bewegen uns auf den dreimillionsten Besucher zu.“
Denn inzwischen hatte sich der Berliner Unterwelten e. V. längst zu einem mittleren Unternehmen entwickelt – mit über 300.000 Besuchern im Jahr 2017 und einem Umsatz von über 3 Millionen Euro. Seine Führungen sind ein Anziehungspunkt für geschichtsinteressierte Touristen geworden.
Laut Leitbild des Vereins ist man „ein verantwortungsvoller und sozialer Arbeitgeber“. Sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind seit 2013 alle MitarbeiterInnen, die im Jahr mehr als 5.400 Euro verdienen. Knapp 50 haben einen rechtssicheren Arbeitsvertrag. Viele aber sind „MitarbeiterInnen auf Zuruf“. Ihnen wird kein festes Gehalt gezahlt. Bezahlter Urlaub sowie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall werden nicht gewährt. Vom Betriebsrat, von dessen Wahl sie ausgeschlossen sind, werden sie nicht vertreten. Vor dem Coronalockdown verdienten ReferentInnen mit einem rechtssicheren Arbeitsvertrag zwischen 15 und 23 Euro, „MitarbeiterInnen auf Zuruf“ zwischen 17,60 Euro und 23 Euro brutto pro Stunde. Im Leitbild des Vereins wird betont: „Es geht uns um hochwertige Vermittlung von Geschichte. Dabei steht Qualitität vor Quantität.“ In der Realität ist es nur durch eine Qualifizierung für verschiedene Touren in mehreren Sprachen möglich, den Stundenlohn bis zur maximalen Summe zu steigern.
Als Folge des Lockdowns wurden alle festangestellten MitarbeiterInnen im März 2020 in die Kurzarbeit entlassen. Rund fünfzig „MitarbeiterInnen auf Zuruf“ erhielten am 8. April 2020 die sofortige Kündigung – unter Missachtung der Kündigungsfrist für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Eine ehemalige Justiziarin des Vereins wollte die inoffizielle Interessenvertretung dieser nun entlassenen MitarbeiterInnen über die Möglichkeit, innerhalb von drei Wochen eine Kündigungsschutzklage einzureichen, informieren. Die Mail wurde zurückgehalten und die ehemaligen MitarbeiterInnen wurden so entmündigt. Der dafür Verantwortliche begründete diesen Schritt mit: „Ich will den Verein retten.“
Was bedeutet in der jetzigen Situation „den Verein retten“? Vor allem: Wen rettet man, wenn der Verein mit Strukturen durch die Krise kommt, die sich über Jahre etabliert haben und zu gravierenden Fehlentwicklungen führten?
Diese Fehlentwicklungen zeigen sich besonders eklatant bei den Mitgliederversammlungen. Laut Satzung des Vereins wird zweimal jährlich eine Mitgliederversammlung einberufen – das Mittel zur demokratischen Entscheidungsfindung eines eingetragenen Vereins par excellence. Sieht man sich die Protokolle der Mitgliederversammlungen von 2016 bis 2019 an, dann fällt auf, dass in diesem Zeitraum nie weniger als 50, aber auch nicht mehr als 70 stimmberechtigte Mitglieder bei einer Versammlung anwesend waren. Der Verein hat rund 500 Mitglieder, 10 bis 12 Prozent der Mitglieder stimmen also während einer Mitgliederversammlung ab. Die meisten Mitglieder sind aber keine MitarbeiterInnen des Betriebs. Laut Leitbild sind im Betrieb insgesamt 170 Personen beschäftigt. 90 davon sollen auch Mitglieder im Verein sein. Ihre Präsenz bei den Versammlungen ist durchweg im unteren zweistelligen Bereich. Die latente Erfahrung, Entscheidungsprozesse nicht wirklich beeinflussen zu können, führt gerade bei Mitgliedern, deren Arbeitgeber der Verein ist, zu einer resignativen Haltung. Auf den Mitgliederversammlungen werden aber, das geht aus den Protokollen hervor, Entscheidungen getroffen, die oft den Betrieb mehr betreffen als den Verein an sich. Sieht man sich wiederum die Protokolle mit Hinblick auf die Entscheidungsfindung an, fällt auf, das alle vom Vorstand eingebrachten Vorhaben in den Mitgliederversammlungen mit 80 bis 95 Prozent Ja-Stimmen abgesegnet werden.
Laut Leitbild setzt der Verein „auf flache Hierarchien und einen kooperativen Arbeitsstil“. Fakt ist, dass das Fehlen einer transparenten Kommunikationskultur in Kombination mit dem Unvermögen der Leitung, mit konstruktiver Kritik umzugehen, in der extremen Situation des Lockdowns dazu geführt hat, dass einige langjährige Mitarbeiter den Betrieb verlassen, zwei ehrenamtliche Kassenprüfer ihr Amt niedergelegt haben und der langjährige Finanzvorstand zurückgetreten ist.
Am 10.Juli 2020 fand die erste Mitgliederversammlung nach dem Shutdown statt. Es waren rund 100 stimmberechtigte Mitglieder anwesend, so viele wie noch nie bei einer Versammlung in den vergangenen 23 Jahren. Während dieser stürmischsten Mitgliederversammlung, die der Verein je hatte, wurde auch über den kritischen Kassenprüfungsbericht für das Jahr 2018 debattiert. Der letzte verbliebene Kassenprüfer konstatierte abschließend: „Die erlebte Unterwanderung und versuchte Diskreditierung der Kassenprüfer und unseres Berichts durch den Vorstand empfinde ich als sehr traurigen Höhepunkt.“ Der Vorstand besteht momentan aus dem Vereinsvorsitzenden Dietmar Arnold und seinem Stellvertreter Jürgen Wedemeyer. Der zurückgetretene Finanzvorstand Andreas Körner beschrieb in seiner Abschiedsrede die Arbeitsatmosphäre: „An der Führungsspitze des Vereins herrscht ein Klima des Misstrauens, der Diffamierung und der Intransparenz. Das Leitbild wird dort nicht gelebt.“
Dietmar Arnold hatte im Oktober 2019 seinen Antrag, dem Verein ein Leitbild zu geben, unter anderem so begründet: „Das Leitbild soll zur Imagepflege beitragen. Damit wollen wir uns als gemeinnütziger Verein von der Konkurrenz abheben.“
Laut Vereinssatzung soll „das erzielte Wissen vermittelt werden, auch im Rahmen der Jugendbildung“. Der Berliner Unterwelten e. V. hat einen Bildungsauftrag. Viele Schulklassen aus ganz Europa haben in den letzten Jahren die authentischen Orte, die der Verein zugänglich gemacht hat, im Zuge einer lebendigen Führung besucht. Der Verein hat, gerade weil er sich an die Erzählung von sehr sensiblen Bereichen der deutschen Geschichte wagt, eine besondere Verantwortung. Diese sollte bei den eigenen Strukturen beginnen, deren demokratische Grundlagen systematisch ausgehöhlt wurden. Es geht vor allem darum, den Mitgliedern und MitarbeiterInnen ihre Mündigkeit zurückzugeben, damit die Werte, die in der Satzung und im Leitbild des Vereins formuliert werden, gelebt werden können.
Die Taschenlampe, die jeder „Unterweltler“ am liebsten immer bei sich hat, sollte jetzt mit ihrer Eigenschaft, das Verborgene zu erhellen, zur Metapher werden für Transparenz und Neuanfang.
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