Die Wahrheit: In der Halbwelt der Halunken
Die neue Wahrheit-Serie: Die merkwürdigsten Museen der Welt (1). Heute: Das akkurate Polizeimuseum von Kochi in Indien
Eines der ersten Bücher, die ich verschlang, handelte von Vasco da Gama, jenem portugiesischen Entdecker, der den Seeweg nach Indien rund um Afrika fand. In der naiven Heldendarstellung gab es noch keine Fragen nach Kolonialismus oder Unterdrückung fremder Völker, die infantile Lektüre bot nur Platz für Abenteuer und Exotik. Vermutlich deshalb aber sind die beiden kindlichen Traumgebilde Portugal und Indien immer noch die beiden Länder, die ich tatsächlich am meisten in meinem Leben bereist habe. Und da Vasco da Gama gleich zwei Gräber auf Erden hat, habe ich auch beide besucht, das eine in Belém, Portugal, und das andere in Kochi, Indien.
Kochi liegt im südwestlichen Bundesstaat Kerala, im Florida Indiens, und der alte Gewürzhafen dort ist der größte Umschlagplatz der Welt für Masala – Gewürzmischungen, die bei uns Curry genannt werden. Vor allem aber ist Kochi die Stadt des Pfeffers. Daher stammt unsere Redewendung „Jemanden dorthin schicken, wo der Pfeffer wächst“.
Und selbstverständlich ist Kochi eine Stadt der Moderne, die sich am liebsten wie ganz Indien schlagartig in die Zukunft katapultieren würde, gäbe es nicht die straffen Zugseile der konservativen Tradition. Wer sich einen Begriff vom indischen Widerspruch zwischen Vergangenheit und Zukunft machen möchte, sollte Kochis riesige Shoppingmall „Lulu“ an einem Samstag besuchen, wenn rund eine Millionen Inder aus dem ländlichen Hinterland Keralas Konsumprodukte aus aller Welt bestaunen. Dafür hat Elias Canetti einst den Begriff „Masse und Macht“ erfunden.
Der abseitigste Ort Kochis allerdings ist das örtliche Polizeimuseum. Es findet sich in der Altstadt auf der Halbinsel Fort Kochi. Während die älteste Synagoge Indiens in Mattancherry Jew Town von vielen Touristen besucht wird, verirrt sich in die nicht weit entfernte Sammlung der Ordnungshüter kaum jemand. Dafür benötigt es schon einen kräftigen Regen im Monsun, der nach einem Schutzdach verlangt, während die Temperaturen kurzzeitig von extrem schwülen 34 Grad auf milde 32 Grad sinken. Da liegt der Gedanke nahe, den ausgestellten Objekten rund ums indische Sicherheitswesen einen Besuch abzustatten, auch wenn die beiden goldenen Kanonen vor dem Tor nicht gerade vertrauenerweckend wirken.
Entlegener Posten am Ende der Welt
Sichtlich gestört, zuckt der äußerst korrekt uniformierte Torwächter zusammen, auf dem kleinen Fernsehschirm an der Wand läuft offenbar seine Lieblings-Soap. Was hat der Policeofficer nur angestellt, dass er auf diesen entlegenen Posten am Ende der bekannten Welt strafversetzt wurde? Oder ist er der Schwager des Polizeichefs, der hier seiner Rente entgegendämmert? Der Eintrittspreis jedenfalls ist lächerlich gering, aufwendig gestaltet sich jedoch die Suche nach Eintrittskarten. Besucher hatte das Museum schon länger nicht mehr. Aber es soll schließlich alles korrekt sein.
Das, wie es offiziell heißt, International Tourism Police Station and Police Museum hat schon bessere Tage gesehen, als die Khaki-Uniformen noch frisch und die Übeltäter an ihrer zerschlissenen Sträflingskleidung zu erkennen waren. Dennoch ist alles sauber und akkurat hergerichtet, vermutlich führt im Hintergrund die Frau des Torwächters das Familienputz-Business. Der Wandel der Uniformen von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart ist ausführlich dokumentiert, besichtigt werden können Rangabzeichen und Schulterstücke, Säbel und Pistolen, Ferngläser und Handgranaten. Was man so braucht, um die Halbwelt der Halunken im Griff zu behalten.
Entgegen manch reißerischer Schlagzeile in westlichen Medien weist die Kriminalitätsstatistik in Indien trotz der schieren Masse an Bevölkerung verblüffend geringe Zahlen auf. Das liegt allerdings auch daran, dass viele juristische Probleme nicht in der Öffentlichkeit, sondern im Hintergrund geklärt werden. Und daran, dass die indische Justiz eines der zähesten Mahlwerke des Universums besitzt. Prozesse dauern oft so lange, dass man bei der Urteilsfindung manchmal vergessen hat, was eigentlich für eine Straftat begangen wurde. Ansonsten hat Indien seine schlagzeilenträchtigen Banden und Coups, Gangster und Gurus, die einiges miteinander zu tun haben. Wer mehr darüber wissen will, sollte Vikram Chandras modernen Klassiker der Kriminalliteratur „Der Pate von Bombay“ lesen, der von Netflix als Serie halbgut verfilmt wurde.
Herzstück der Sammlung im Polizeimuseum von Kochi ist eine kleine gruselige Kammer, in der Delikte am Menschen vorgeführt werden – zum Beispiel an mehreren armlosen Torsi, denen kunstvoll Schuss- und Stichwunden zugefügt wurden. Offensichtlich ehemalige Lehrobjekte aus der Polizeischule, die beweisen sollen, dass die indische Kriminalistik auf Weltniveau arbeitet.
Kunstvoll durchgeschnittene Kehlen
Angesichts kunstvoll durchgeschnittener Kehlen kann einem bei gefühlt 50 Grad Celsius in der heißen Mordkammer allerdings heftig der Schweiß ausbrechen. Oder liegt es an den nicht mehr funktionstüchtigen Ventilatoren, die zuletzt in der Zeit der Briten ein Lüftchen vielleicht bewegten? Wenigstens bleibt der kalte Schauder, wenn detailliert Tötungswerkzeuge und -arten vorgestellt werden.
Draußen beendet der pünktlich jeden Tag zur selben Zeit niedergehende Monsunregen seine Sturzbäche, und drinnen scheint einem der Geruch von Blut in die Nase zu steigen. Die Schaubilder werden immer drastischer, das Horrorkabinett bietet ungefiltert den ganzen Schrecken, zu dem Menschen fähig sind. Zum Glück gibt es die zunächst Lunghi tragenden und später kurzbehosten Khakiträger, deren Heldentaten in aller Ausführlichkeit nacherzählt werden.
Nachttopfmuseum, Am Bartelskamp 10, Wasbüttel
Wie beispielsweise die Geschichte des gefährlichen Schurken H., der bei seinen Missetaten gestellt und in Gewahrsam genommen wurde, weshalb die Welt seither eine bessere ist – Vishnu sei Dank. Oder war es der Gott Varuna, der für Recht und Ordnung steht? Bei den vielen hinduistischen Göttern, die für alles Mögliche zuständig sind, kann man schon mal durcheinanderkommen. Außerdem sind indische Polizisten meist keine Hindus, sondern Sikhs, und die verehren ein höheres Wesen ohne Gestalt, das weder Männlein noch Weiblein ist.
Mit einem tiefen Dank an und einem hohen Trinkgeld für den Torwächter verlasse ich schweißgebadet das gastliche Museum, das einen prägenden Eindruck bei mir hinterlassen hat und ganz sicher nicht auf den Müll der Geschichte gehört. Vielmehr hat der Kriminalist in mir jede Menge über aufgesetzte Schüsse und Streupulverisierung gelernt. Damit ich beim nächsten „Tatort“ den internationalen Fachmann geben kann.
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