piwik no script img

Corona im Idunazentrum GöttingenVon Prestigeobjekt zum Brennpunkt

In Göttingen häuften sich vor einer Woche plötzlich die Corona-Infektionen. Als Ausgangspunkt im Fokus der Boulevard-Presse: das Iduna-Zentrum.

Das Iduna-Hochhaus in Göttingen Foto: Swen Pfortner/dpa

Göttingen taz | „Aufruhr im Corona-Block“ überschrieb die Bild-Zeitung einen Bericht über den Corona-Ausbruch in Göttingen. Der „Corona-Block“ ist das Iduna-Zentrum – ein schmuckloses Konstrukt aus drei aneinanderklebenden Wohntürmen, 17 Stockwerke hoch, in dem sich viele der neu Infizierten am vorvergangenen Wochenende mutmaßlich ansteckten. In „Aufruhr“, so das Blatt, seien viele der rund 700 Bewohner deshalb, weil die Stadtverwaltung am Dienstag Tests für sie alle angeordnet hat.

Am Abend des 23. Mai sollen im Iduna-Zentrum mehrere Familien das Zuckerfest gefeiert haben, das bei Muslimen traditionell das Fastenbrechen einläutet – auf engem Raum und ohne die Abstandsregelungen einzuhalten, wie die Stadtverwaltung berichtet. Die Zahl der seither mit dem Virus neu infizierten Personen in Göttingen war bis Donnerstagnachmittag auf 105 geklettert.

Das Iduna-Zentrum hat seinen Namen von der Iduna Nova Kranken- und Sterbegeldversicherung. Das Unternehmen gab den Bau des Zentrums vor knapp 50 Jahren in Auftrag, 1975 wurde es eröffnet. Auf dem Dach wuchert ein Wald von Mobilfunkantennen, an den meisten der kleinen Balkone hängen Satellitenschüsseln. Außer rund 400 Wohnungen beherbergt der Betonklotz eine private Fachhochschule, ein Restaurant und zwei Clubs.

Wie in den Vortagen steht auch am Donnerstagmorgen ein Polizeiwagen auf dem Bürgersteig gegenüber. Ein Stück weiter haben Kameraleute ihre Apparaturen aufgebaut. Aus Fenstern in oberen Etagen schauen junge Leute. Einige feixen, einer winkt, seine Kumpels lachen. Sprechen wollen sie mit der taz nicht. Auch im Treppenhaus scheitern Kontaktversuche, hinter einigen Türen wummert laute Musik, irgendwo kreischen Kinder. Am Mittwoch war die Stimmung hier nicht so gut. Ein TV-Team soll von Bewohnern beschimpft und nach Aussage des Kameramannes gar mit rohen Kartoffeln beworfen worden sein.

Auftritt im Tatort

Am Rand der Innenstadt gelegen und durch Fußgängerbrücken mit der gegenüberliegenden Universität und der Haupteinkaufsstraße verbunden, galt das Iduna-Zentrum zunächst als Top-Adresse. Appartements und Büroräume waren schnell an betuchte Studierende oder im Beruf aufstrebende Singles vermietet oder weiterverkauft, Bewohner schwärmten von der tollen Aussicht. Im Erdgeschoss gab es sogar ein Schwimmbad. Noch Ende der 1970er Jahre ließ die Stadt Göttingen Fotos des Gebäudes als Attraktion auf Werbepostkarten drucken.

Heute leben hier statt Jura- und Betriebswirtschaftsstudenten viele Bürgerkriegsflüchtlinge sowie Empfänger von Hartz IV und anderen Transferleistungen, daneben auch verarmte Senioren. Die wenigen im Haus verbliebenen Studenten gelten fast schon als Auslaufmodelle. Die beiden Brücken – materielle wie soziale Verbindungen in die Stadt – wurden längst abgerissen, die letzte im Jahr 2003.

Die aktuellen Besitzverhältnisse in dem Haus sind kaum zu durchschauen. Die Wohnungen, zumeist Ein-Zimmer-Appartements mit 30 bis 34 Quadratmetern, sollen bis zu 200 Eigentümern gehören. Der Mietpreis, berichteten Bewohner, entspreche dem vom Amt gewährten Höchstsatz.

Im vergangenen Jahr mussten Kameraschwenks über das Iduna-Zentrum in einem NDR-„Tatort“ herhalten, um zu dokumentieren, dass es in der sonst so beschaulichen Stadt auch soziale Brennpunkte gibt. Angeblich hatte die Hausverwaltung vor dem Dreh extra den Müll von den Balkonen und vom Parkplatz entfernen lassen, das Filmteam habe dort daraufhin aber wieder Abfälle deponieren lassen, weil das besser ins suggerierte Bild passte.

Auch im realen Leben ist das Iduna-Zentrum seit Jahren ein Schwerpunkt in der Arbeit der örtlichen Strafverfolgungsbehörden. Das sagt zumindest die Göttinger Staatsanwaltschaft. Es geht dabei wohl vor allem um Drogen, in einigen Fällen auch um Gewaltdelikte. Eigentlich kein Wunder, wenn 900 Menschen auf engem Raum zusammenhocken, viele mit Kriegstraumata, die meisten ohne gute Perspektive. Einige Dutzend mal im Jahr rückt die Feuerwehr zu Einsätzen im Iduna-Zentrum an, löschen muss sie aber nur selten, die allermeisten Alarme werden aus Versehen oder auch mal aus Spaß ausgelöst.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Ein fast stimmiger Bericht, wenn auch eigene Narrative durchkommen.

    "Die beiden Brücken – materielle wie soziale Verbindungen in die Stadt – wurden längst abgerissen,..."

    Das Iduna-Zentrum ist trotzdem noch mit der (Innen)Stadt verbunden. Zur Erklärung: Es waren nur wenig genutzte Fussgängerbrücken über die Hauptstrassen, die abgerissen wurden. Ebenerdig wurden die Übergänge neu gestaltet.

    "kein Wunder, wenn 900 Menschen auf engem Raum .."



    Die 900 Leute wohnen immerhin noch in separaten Wohnungen. Über deren Standard man streiten kann. Aber nicht überall wo 900 Leute zusammenkommen, kommt es automatisch zu Drogen - und Gewaltdelikten. Die Kausalität macht sich nicht an der Anzahl fest.