piwik no script img

Thüringen will zum schwedischen Modell

Bodo Ramelow will die Corona-Maßnahmen für sein Land aufheben – und erntet breiten Widerspruch. Zwei lokale Ausbrüche offenbaren die fragile Lage

Die Reisezeit könnte eine neue Infektionswelle lostreten, warnt Gesundheitsforscher Max Geraedts

Aus Berlin Daniel Godeck

Mit derzeit rund 2.800 bestätigten Covid-19-Fällen gehört Thüringen zu jenen Bundesländern, die von der Pandemie bislang am wenigsten betroffen sind. Ministerpräsident Bodo Ramelow hat diese Zahlen und das allgemein sinkende Infektionsgeschehen am Wochenende zum Anlass genommen, die baldige Aufhebung der allgemeinen Corona-Beschränkungen für den Freistaat anzukündigen.

„Wir haben im März auf der Grundlage von Schätzungen von 60.000 Infizierten entschieden – jetzt haben wir aktuell 245 Infizierte“, sagte der Linken-Politiker der Bild am Sonntag. „Der Erfolg gibt uns mit den harten Maßnahmen recht – zwingt uns nun aber auch zu realistischen Konsequenzen und zum Handeln. Und das heißt: Für Thüringen empfehle ich die Aufhebung der Maßnahmen.“

Konkret sieht Ramelows Plan vor, vom 6. Juni an die derzeit allgemeinen, landesweit gültigen Corona-Schutzvorschriften nicht zu verlängern. Damit würden die Regeln zu Mindestabständen, dem Tragen von Mund-Nasen-Schutz sowie Kontaktbeschränkungen nicht mehr gelten. Anstatt dieser Vorgaben soll es dann regionale Maßnahmen abhängig vom Infektionsgeschehen vor Ort geben. Dafür ist ein Grenzwert von 35 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche im Gespräch.

Auch wenn einzelne Länderchefs immer mal wieder mit bestimmten Lockerungen vorpreschen, stellt Ramelows Vorstoß ein Novum dar. An den seit zwei Monaten bundesweit geltenden Kontaktbeschränkungen wagte bislang kein Ministerpräsident zwischen Kiel und München ernsthaft zu rütteln – zu groß ist die Befürchtung vor einem neuerlichen Aufflammen der Pandemie.

Die von Bund und Ländern vereinbarten Regelungen gelten noch bis 5. Juni – danach will Ramelow in Thüringen nun also umsteuern. „Von Ver- zu Geboten, von staatlichem Zwang hin zu selbstverantwortetem Maßhalten“, schrieb der linke Regierungschef auf seiner Internetseite.

Aus anderen Bundesländern erntete Ramelow Widerspruch. „Ich halte eine komplette schnelle Lockerung für verfrüht“, sagte etwa Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU). Auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil hält von einer vorschnellen Aufhebung jeglicher Maßnahmen wenig: „Das Coronavirus ist keineswegs aus der Welt“, sagte der SPD-Politiker der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, weshalb Lockerungen weiterhin „nur Schritt für Schritt“ erfolgen dürften – „ohne den Bogen zu überspannen.“

Gegenwind bekommt Ramelow auch von seiner eigenen rot-rot-grünen Koalition: „Das hat überall große Irritationen ausgelöst“, sagte der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Matthias Hey. Auch Thomas Nitsche, der Oberbürgermeister von Jena, wo im März als eine der ersten Kommunen eine Maskenpflicht eingeführt wurde, sieht den Vorstoß aus der Erfurter Staatskanzlei kritisch „Mir scheint das ein Gang aufs Minenfeld“, schrieb der FDP-Politiker auf Facebook. Und ergänzt: „Wo’s kracht, da gibt’s halt lokal einen zweiten Lockdown. Soll das wirklich unsere Strategie sein in Thüringen?“

Trotz beständig sinkender Infektionszahlen – das Robert-Koch-Institut zählte am Sonntag bundesweit 431 neue Covid-19-Fälle – warnen auch Virologen und Epidemiologen unverändert vor einem zu frühen Ende der Hygiene- und Schutzmaßnahmen. Zumal angesichts der bevorstehenden Urlaubssaison eine neue Ansteckungswelle drohen könnte. Aktuell sähen die Infektionszahlen zwar gut aus, sagt Max Geraedts, Arzt und Gesundheitsforscher von der Universität Marburg. Wenn Menschen jedoch wieder vielerorts eng zusammenkämen, etwa in Bars, könnte das dennoch ausreichen, „um wieder einen starken Anstieg loszutreten“. Gerade die kommende Reisezeit berge das Risiko, dass sich das Virus noch flächendeckender ausbreite als es bislang der Fall ist.

Zwei am Wochenende bekannt gewordene lokale Corona-Ausbrüche in Hessen und Niedersachsen führen vor Augen, wie fragil das Infektionsgeschehen nach wie vor ist. Nach einem Gottesdienst in einer Kirchengemeinde der Baptisten in Frankfurt am Main haben sich mehr als 40 Menschen mit Covid-19 infiziert. In deren Folge musste auch ein bereits genehmigter Stadiongottesdienst in Hanau zum Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan abgesagt werden.

In einem zweiten Fall sind nach der Wiedereröffnung eines Gasthofs im ostfriesischen Leer mindestens zehn Menschen positiv auf das Coronavirus getestet worden – offenbar durch bewusstes Verletzen der Abstandsregeln. „Nach ersten Erkenntnissen ist das Infektionsgeschehen vor Ort nicht auf einen normalen Restaurantbesuch zurückzuführen“, erklärte Niedersachsens Gesundheitsministerin Carola Reimann (SPD) am Samstag. „Stattdessen wurde dort offenbar eine private Party gefeiert.“ Laut Zeugenaussagen sollen Gäste Hände geschüttelt und Mindestabstände nicht eingehalten haben. Dem Betreiber der Gaststätte droht nun eine Strafe.

meinung + diskussion

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen