Mühlheimer Theatertage im Netz: Am Schluss ein Tattoo auf der Brust
Mit einem Porträt-Format im Netz weisen die Mülheimer Theatertage auf ihr ausgefallenes Festival „Stücke 2020“ über neue Dramatik hin.
Die Hände von Ewald Palmetshofer sind ständig in Bewegung. Sie drehen sich und schrauben mit Nachdruck in der Luft, während er mit vorsichtigen Sätzen von seinem Drama „Die Verlorenen“ erzählt. Caren Jeß sitzt im Schneidersitz und mit Sonnenbrille im trockenen Gras, hinter sich die Elbe, und erzählt, wie das Wort „Dreckspfau“ eines Tages in ihrer Küche stand. Und dann nach und nach zu einem Protagonisten wurde, der um das Recht auf Veränderung in ihrem Drama „Bookpink“ kämpft.
Sivan Ben Yishai erläutert am Ende des Beitrags, der um ihr Drama „Liebe – eine argumentative Übung“ kreist, wie das Tattoo, das als schmale Linie ihre Brust kreuzt und den Hals bis zum Kinn hochläuft, mit dem Abschluss des Dramas zusammenhängt; eine körperliche Verbindung zu dem Text, der sich immer tiefer in den Körper hineinschraubt.
Seit dem 16. Mai haben die Mülheimer Theatertage „Stücke 2020“, die zurzeit nicht stattfinden können, jeden Tag ein filmisches (Selbst-)Porträt der acht nominierten Dramatiker:innen ins Netz gestellt. Auch deren Texte kann man dort lesen (noch bis zum 6. Juni). So ist ein kleines und informatives Format entstanden, das einen guten Blick auf die Sprache der Dramatiker:innen erlaubt und dabei staunen lässt über das Kunstvolle, Fantastische, Absurde und Mäandernde in ihren Gebäuden aus Sprache.
Inszenierungen sind nicht zu sehen
Und weil man die Inszenierungen nicht sehen kann – bis auf winzige Ausschnitte –, wird der Spielraum, den diese Gebäude den Schauspieler:innen und Regisseur:innen eröffnen, greifbarer. Zumal beteiligte Künstler:innen erzählen, wie die Sätze sie triggern, fordern und in ihnen arbeiten.
Normalerweise werden die von einer Jury ausgewählten Stücke als Gastspiele zu einem Wettbewerb nach Mülheim eingeladen und wird am Ende ein Preis verliehen, diesmal mit 15.000 Euro dotiert. Dieses Jahr erhält jede/r der nominierten Autor:innen 3.000 Euro.
„ANGST ANGST ANGST“. Über mehrere Seiten zieht sich das Wort, in Großbuchstaben geschrieben, in Bonn Parks Horrorstück „Das Deutschland“. Er habe keine Lust gehabt, schon wieder Nazis auf die Bühne zu stellen, erzählt er, und doch geht es in dem Stück um Prozesse der Ausgrenzung beziehungsweise Angleichung. Bei einer Vater-Mutter-Sohn-Familie ist ein Mädchen zu Besuch, das neu „formatiert“ werden soll. Park legt Prozesse von Normierung frei, wo man sich der eigenen Liberalität sicher war.
Von Verlusten gezeichnet
Mit Ewald Palmetshofers Stück „Die Verlorenen“ hatte das Residenztheater München die Spielzeit eröffnet. Die Sprache seiner Figuren erscheint selbst wie durch eine Mangel gedreht, unter Druck geraten, Verschiebungen ausgesetzt, zerrissen, von Verlusten getroffen. Und doch, so erzählen die Schauspieler:innen, entfalten die oft ins Nichts führenden Sätze einen Rhythmus und eine Musikalität, die zu einem Halt für Schauspieler und Figur werden.
Die Theater waren schon geschlossen, als die Idee zu diesen filmischen Porträts, 15 bis 25 Minuten kurz, entstand. Deshalb sind sie meist draußen zu sehen, in einem Park, unter freiem Himmel; Frühling leuchtet durch die Härten, die die Stücke durchaus haben. Dass der „Dreckspfau“ in Caren Jeß’ Stück „Bookpink“ entstand, als sie eine Zeit lang im Knast gearbeitet hatte, merkt man ihm durchaus an.
„Dann würd’ ich noch sagen, ich bin auf jeden Fall nicht kriminell, egal, was die anderen sagen. Korrekter Typ, ja. Ich saß schon dreimal hinter Gittern, aber die haben mich immer wieder freigelassen, weil ich keine Eier leg. Halt Pech. Die gehen davon aus, dass ich kriminell bin, hab halt Raubmord begangen, aber, ey, die verfickte Sau, die mich nicht aus ihrem Trog fressen lassen wollte, hab ich halt plattgemacht, weil sie ’n scheißegoistisches Mistvieh war.“ Fast 20 Vögel und mehrere Pflanzen tauchen in ihrem „dramatischen Kompendium“ auf und doch beschreiben sie Wirklichkeit.
Das Ritual der Übergabe
Sivan Ben Yishai, die aus Israel nach Deutschland kam, stellt sich auf Englisch vor. Mit ihrer Übersetzerin redet sie darüber, wie die Übersetzung ihrer Texte ins Deutsche ein weiterer produktiver Schritt ist. In Spiralbewegungen kreist sie ein Thema ein. Vor einer Premiere, bekennt sie, würde sie den Text am liebsten einmal allein im leeren Theater sprechen als ein Ritual der Übergabe.
Und sie zitiert aus „Liebe – eine argumentative Übung“ unter freiem Himmel, Olivia, die Freundin von Popeye: „Sie würd’s jetzt nicht zugeben, aber auf eine Art spürte sie, dass es keine Zeit für Feminismus gibt, wenn jemand dir eine Liebesgeste schenkt – kämpf für Feminismus, wenn keiner dich umarmt, aber wenn, zum Beispiel nach dem Sex, dein Partner seine Arme öffnet und sagt, „komm her, Kleine“, ist das nicht der Moment, ihm eine Lektion in Gleichberechtigung und Genderrollen zu erteilen“, und da ahnt man schon, mit welchen Diskursen sie sich in ihrem Stück anlegt.
Neugierig, die Stücke der acht noch bis Sonntag präsentierten Dramatiker:innen dann auch in Inszenierungen zu sehen, in den Theatern, macht diese Form auf jeden Fall. Zu Hause, am Bildschirm, das ist nur ein kleiner Happen, der aber gut für die neue Dramatik wirbt.
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