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Neue Spielstraßen in BerlinKinder nehmen Raum ein

Um Gedränge auf den Spielplätzen zu reduzieren, gibt Friedrichshain-Kreuzberg Straßenabschnitte als Spielstraßen frei. Nach Corona soll Schluss sein

Straßen-Kinder: Auch ein Abschnitt der Friedrichstraße wird zur Spielstraße Foto: Stephan Boness/Ipon

Berlin taz | Neben Schmetterling und Segelschiff ziert ein blau-grünes Auto aus Kreide den Asphalt. Vier Kinder rennen einem Ball hinterher. Das südliche Ende der Friedrichstraße ist am Sonntag für einen Abschnitt von rund 300 Meter in eine temporäre Spielstraße umgewandelt – hier rollen heute von 13 bis 19 Uhr keine Autos, sondern Laufräder. Das könnte auch nach Corona Normalität werden.

Über sechs Wochen waren die Spielplätze in Berlin coronabedingt geschlossen, nun öffnen sie nach und nach wieder. Damit Abstand gehalten werden kann und sich nicht zu viele Kinder und Eltern gleichzeitig ums Klettergerüst drängen, sorgt Friedrichshain-Kreuzberg für mehr Platz: Jeden Sonntag sollen bis zu 30 Straßen in der Nähe von Spielplätzen für Autos gesperrt und zum Spielen geöffnet werden. Vom Lausitzer Platz bis zur Cuvrystraße: 19 Spielstraßen gibt es bereits, weitere sollen dazukommen.

„Europaweit ist Friedrichshain-Kreuzberg eines der am dichtesten besiedelten Stadtgebiete“, sagt Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes, der taz am Telefon. „Wo es besonders prekär ist, wie im Boxhagener Kiez, soll deshalb mehr Platz zum Spielen entstehen.“

In orangefarbener Warnweste winkt Tim Lehmann ein Auto an einer Absperrung vorbei, während er einer Fußgängerin einen Infozettel reicht. Der 34-jährige Anwohner ist als sogenannter „Kapitän“ verantwortlich für die Spielzone Friedrichstraße. Voraussetzung des Bezirks ist, dass pro Straße ein*e Kapitän*in dafür sorgt, dass sich genug freiwillige Kiezlots*innen finden, die Verkehrsschilder aufstellen, Abstandsregeln kommunizieren und heranfahrenden Autos die Lage erklären. „Die Aktion kommt bei allen gut an. Auch bei den Autofahrer*innen“, sagt Lehmann. Neben ihm liegt eine Wasserzapfstation, die eingerichtet werden soll, um Bäume des anliegenden Parks zu wässern.

„Von der Idee bis zur Umsetzung waren es zwei Wochen“, sagt Heiko Rintelen, Co-Gründer von FixMyBerlin, die Software zur Unterstützung der Mobilitätswende entwickeln und den Registrierungsprozess mit dem Bezirk durchführt. „Wir freuen uns, dass es gut läuft, denn wir wussten nicht, ob das für so viele Straßen klappt“, sagt der 43-Jährige. Immerhin müssten die Freiwilligen eine Vereinbarung der Verwaltung unterschreiben. 280 Menschen meldeten sich innerhalb von 31 Stunden. Mittlerweile sind es über 400. Auch der Verwaltungsprozess ginge schneller als üblich.

Noch schöner ohne parkende Autos

Hinter einem mobilen Fußballtor sitzt der kleine Emrecan, der heute drei Jahre alt wird. Sein Vater reicht ihm ein Stück Kreide. „Ich finde es toll, dass hier gespielt werden kann“, sagt Kenan Cengiz. „Noch schöner wäre, wenn hier weniger parkende Autos stehen würden, damit die Bälle nicht ständig verschwinden“, fügt der 47-Jährige hinzu. In der Wassertorstraße spielen rund 15 Kinder. Hier hat das Kiezprojekt Kreuzberg Kickt noch ein Federballnetz und zwei kleine Fußballtore aufgebaut.

Die temporären Spielstraßen sind bis zum 28. Juni erlaubt. „Je nach Coronalage kann die Verwaltung das Angebot unkompliziert um vier Wochen verlängern, so lange, wie das Distanzgebot gilt“, sagt Weisbrich, es sei nicht ausgeschlossen, dass das Angebot langfristig etabliert werden kann – sofern das die Anwohner*innen wollen und sich genügend Freiwillige fänden. Ein Stimmungsbild könnte mit einer Diskussionsveranstaltung eingeholt werden. „Es braucht Engagement vor Ort, denn das Konstrukt lebt von einer echten zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit“, sagt er. Der Bezirk habe nicht genug Personal, um das ohne Hilfe durchzuführen.

Loenie Beeskow gibt einer jungen Mutter einen Hula-Hoop-Ring von einem Stapel. „Ich arbeite seit zwei Jahren im Kiez und war überrascht, wie gut die Spielstraße auf Anhieb läuft und wie groß das Engagement hier in der Nachbarschaft ist“, sagt Beeskow vom MehrGenerationenHaus Wassertor, einem Verein, der seit zehn Jahren Räume für nachbarschaftliche Projekte organisiert. „Normalerweise braucht so etwas mehr Vorlauf, aber der Drang nach Bewegung ist groß.“ Die 30-Jährige kann sich gut vorstellen, dass sich die Spielstraße in den Sommermonaten etabliert.

Die Idee der temporären Spielstraßen ist nicht neu. In der Kreuzberger Böckhstraße darf von April bis September mittwochs gespielt werden. In der Gudvanger Straße in Pankow gibt es seit sechs Jahren Engagement für eine Spielstraße – allerdings auch dagegen. Weil Anwohner*innen klagten, ist das Spielen dort derzeit nicht erlaubt.

Ein*e Kapitän*in und mehrere freiwillige Kiezlots*innen sind für eine Straße zuständig

Von Vancouver über Mailand bis Budapest werden derzeit Straßen für Autos gesperrt und für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen geöffnet. Wofür es mancherorts ein Virus braucht, klappt in anderen Großstädten schon vorher: In London sind temporäre Spielstraßen mittlerweile Normalität, in Bogotá werden seit Jahren sonntags zentrale Straßen für Autos gesperrt und zu Fahrradstraßen erklärt.

„Dem Autoverkehr muss mehr Platz weggenommen werden“, sagt Lehmann und schiebt ein Verkehrsschild zurecht. „Alles musste sich das letzte halbe Jahrhundert dem motorisierten Individualverkehr in der Stadtordnung unterordnen. Es ist an der Zeit, dass wir Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen angemessen Platz einräumen.“

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1 Kommentar

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  • Interessant ist, dass sowieso bereits existierende Spielstraßen zu Spielstraßen umgenutzt werden. Paul-Linke-Ufer zwischen Ohlauer und Glogauer Str. oder auch der Lausitzer Platz sind bereits Spielstraßen!!! Warum permanente Spielstraßen zu temporären Spielstraßen werden, verstehe ich nicht. Es drängt sich einem der Verdacht auf, dass hier die Anwohner*innen den Job von Polizei und Ordnungsamt übernehmen sollen, da diese bei Falschparker*innen und Geschwindigkeitsübertretungen nicht reagieren.



    Ein ähnliches Phänomen gibt es derzeit bei der Baumpflege. Der Senat möchte, dass die Anwohner*innen Berliner Stadtbäume gießen. Ist das nicht Aufgabe der öffentlichen Hand? Müssen wir bald auch noch die öffentlichen Mülleimer leeren? Mensch fragt sich warum das alles. Geld scheint es ja ohne Ende zu geben. Siehe: 16. Bauabschnitt A100 und BER.