Theaterbetrieb in Coronazeiten: Das Zittern fehlt
Zum ersten Mal in seiner 57-jährigen Geschichte muss das Berliner Theatertreffen ausfallen. Der digitale Platzhalter ist kein gleichwertiger Ersatz.
Am 1. Mai hätte das Berliner Theatertreffen begonnen. Als Festival, auf dem zehn von einer Kritikerjury als „bemerkenswert“ ausgewählte Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum präsentiert werden, hat es die Bedeutung eines Verstärkers für die Theaterwelt. Die Szene vergewissert sich ihres Potenzials, sie feiert sich, sie diskutiert ihre kritischen Punkte und bedenkt den Nachwuchs mit Workshop-Programmen.
Dass all dies zum ersten Mal in der 57-jährigen Geschichte des Festivals 2020 coronabedingt ausfallen muss, war seit Mitte März klar. Am letzten Freitag nun wurde ein digitaler Platzhalter angekündigt, das „Theatertreffen virtuell“, das vom 1. bis 9. Mai sechs der eingeladenen Inszenierungen in Aufzeichnungen zeigt und anschließende Gespräche mit den Künstlern und der Jury.
Für den Start am 1. Mai können die Festspiele dabei auf eine 3sat-Produktion zurückgreifen: „Hamlet“, von Johan Simons in Bochum inszeniert und mit Sandra Hüller in der Rolle eines „manisch aufrichtigen Nachwuchspolitikers“ (Margarete Affenzeller in der Jury), funktioniert wahrscheinlich auch als Film gut. Am 2. Mai ist die Produktion auf 3sat zu sehen. Andere Stücke kommen in Aufzeichnungen, doch ob diese den Qualitäten der Inszenierungen gerecht werden können, ist zu bezweifeln.
Etwa bei der extrem entschleunigten Erzählweise von Anta Helena Recke in ihrer Inszenierung „Die Kränkungen der Menschheit“ von den Kammerspielen München, die mit einem ungewohnten Erzählrhythmus Probleme der Erkenntnis und der Wahrnehmung verhandelt, aber oft auch im Diffusen herumtastet, ist es wenig wahrscheinlich, dass am Bildschirm dafür die notwendige Aufmerksamkeit aufgebracht werden kann. Wie das Stück einen langsam in einen Denkprozess hinzieht, geht es dabei nicht verloren?
Mit ungewohntem Erzählrhythmus
Oder „Chinchilla Arschloch, waswas“: Das ist eine Versuchsanordnung, die Helgard Haug mit Darstellern mit Tourette-Syndrom erarbeitet hat, die mit der Aufführung jedes Mal neue Spannungszustände bewältigen müssen und die Atmosphäre, die sie zum Spielen brauchen, erst gemeinsam herstellen. Das muss man eigentlich live erleben, das Zittern fühlen, ob der Abend denn die Kurve kriegt. Die Aufzeichnung taugt zur Information über die Arbeit, ist aber kein Ersatz für das Bühnenereignis.
Yvonne Büdenhölzer ist die Leiterin des Theatertreffens bei den Berliner Festspielen. Sie stimmt in einem Gespräch zu, dass das „Theatertreffen virtuell“ kein Ersatz für das Festival sein kann. Man habe lange diskutiert – an eine Verschiebung in den Herbst konnte schon deshalb nicht gedacht werden, weil dann die Spielstätte, das Haus der Berliner Festspiele, saniert wird. Komplett ausfallen lassen wollten sie den Jahrgang aber auch nicht. Ihr ist klar, dass die Inszenierungen nicht für das Medium, in dem sie jetzt teilweise gezeigt werden, gemacht sind.
So begreift sie die diesjährige Form als Experiment, an das aber zugleich ein Kontext diskursiv anknüpfen kann, mit dem man sich in Pandemiezeiten eben auch im Theaterbetrieb auseinandersetzen muss: Deshalb werden Themen wie „Digitale Praxis im Theater“ oder „Körperliche Praxis und Digitalität“ in Gesprächsrunden verhandelt.
Dass die zehn ausgewählten Inszenierungen nun nicht im Festivalrahmen auf die Bühne kommen, ist für Yvonne Büdenhölzer auch aus einem anderen Grund bedauerlich. Denn sie hatte letztes Jahr eine Frauenquote für das Festival festgesetzt, mindestens die Hälfte der Inszenierungen sollte von Regisseurinnen kommen.
In der Auswahl waren es sogar sechs, zu den schon erwähnten kamen Arbeiten von den Regisseurinnen Claudia Bauer, Florentina Holzinger, Katie Mitchell und Anne Lenk. „Ich bin sicher“, sagt Büdenhölzer, „hätte man das Tableau der zehn Inszenierungen sehen können, hätte sich die lästige Frage überholt, ob denn bei den Regisseurinnen auch genügend Qualität zu finden ist.“
Weiter gefasste gesellschaftliche Perspektive
Ihre Entscheidung für die Quote war zwar auf Skepsis gestoßen, aber sie erhielt auch viel Zustimmung. Zuletzt durch die Auszeichnung von Yvonne Büdenhölzer mit dem Berliner Frauenpreis im März 2020, verliehen von Dilek Kalayci, der Senatorin für Gleichstellung in Berlin. Das hat der Festivalleiterin viel bedeutet, kam diese Anerkennung doch nicht aus der Theaterblase, sondern aus einer weiter gefassten gesellschaftlichen Perspektive.
Zu den zehn von der Jury ausgewählten Inszenierungen gehört auch „Tanz. Eine sylphidische Träumerei in Stunts“ von Florentina Holzinger. Das Stück war im Februar schon einmal in Berlin in den koproduzierenden Sophiensælen zu sehen. Es ist eine sehr körperbezogene Show, nicht nur, was die Darstellerinnen angeht, sondern auch, was Anteilnahme der Zuschauer betrifft.
Dass es davon keine Aufzeichnung zu sehen geben wird, ist eine sehr konsequente Entscheidung. Denn was Holzinger mit ihren Tänzerinnen dem Zuschauenden an Intimität zumutet, an fetischistischen Erfahrungen, die nicht für jeden auszuhalten sind – ich konnte nicht hinsehen, als sich eine Frau an durch die Haut gezogenen Haken in die Luft heben lässt, ich musste rausgehen –, würde verloren gehen beim Transport auf einen Bildschirm.
Das Publikum als Gegenüber erfahren
Holzingers Umgang mit dem Tanz und der Tradition des Balletts ist ironisch, kritisch, skurril, witzig, absurd, aber auch rau und roh. Zudem redet die Choreografin und Regisseurin mit dem Publikum; Anfang März lobte sie es für den Mut, in ihre Performance zu kommen, und das trotz eines Virus, das draußen spukt. Das Publikum als Gegenüber zu erfahren, darauf zu reagieren, ist Teil ihrer Kunst und ein Live-Erlebnis, das sich nicht ersetzen lässt.
So wird das „virtuelle Theatertreffen“ wohl mehr zu einer Markierung der Lücke, die der Ausfall des realen Festivals bedeutet. Wie es in Zukunft weitergeht, ist offen. Die Jury, die im Februar 2020 angefangen hat, Stücke für die nächste Auswahl zu sichten, und nach kurzer Zeit durch den Shutdown gestoppt wurde, wird voraussichtlich erst im Herbst wieder Theater sehen können. Aber noch geht die Theatertreffenleitung davon aus, dass im Mai 2021 wieder „zehn bemerkenswerte Stücke“ in Berlin zu sehen sein werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen