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Soziale Ungerechtigkeit in DeutschlandHört auf zu klatschen!

Die einen spenden in der Corona-Krise vom schicken Altbaubalkon aus Applaus, die Beklatschten selbst haben keine Zeit dafür – und keine Balkone.

Sobald die Wohnungen kleiner und die Balkone weniger werden, lässt auch der Applaus nach Foto: Carsten Thesing/imago

Hamburg taz | Ich bin 43 Jahre alt, Akademiker, gut bezahlt, Personalverantwortung, eine kleine Familie, eine teure Wohnung in einem sich rasch gentrifizierenden großstädtischen Viertel von Hamburg – von der Krise zwar überrascht, bestürzt, aber bisher nur mäßig betroffen.

Mein Home-Office aus der fünften Etage, die Nachbarschaft überschauend, mit neuestem Laptop und Premium-Videokonferenz-Account ausgestattet, lässt fast nichts zu wünschen übrig. Abends wird gekocht: frisches Gemüse vom Bio-Bauern aus dem Alten Land, häufiger ein Glas südfranzösischer Rotwein. Und um 21 Uhr wird geklatscht, sehr laut, oft mit Gejohle, viele junge Familien stehen auf den hell erleuchteten Balkonen rundum. Ich sehe Bärte, manchmal Weingläser; es menschelt.

Seit ein paar Tagen gehe ich jetzt immer um kurz vor 21 Uhr raus. Geht man nach Norden, drängen Hamburgs rote Backsteinviertel die hohen, weißen Altbauwohnungen rasch beiseite. Die Wohnungen werden kleiner, die Decken niedriger. Nur fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt klatscht niemand mehr. Niemand steht auf dem Balkon. Es gibt auch keine Balkone mehr.

Dort, wo niemand mehr klatscht, spür’ ich die Krise wie ein Brennglas. Sie verschärft und vergrößert die Ungerechtigkeiten, die seit vielen Jahren das Zusammen- und Auseinanderleben in diesem, unserem Land bestimmen. Sie beißt die Zähne in unsere alltägliche Gleichgültigkeit. Sie reißt die Menschen auseinander – jetzt auch sehr sichtbar in der Schlange vorm Bäcker. So gesehen, ist sie die logische Fortsetzung der bestimmenden Marktlogik, die zu ökonomischen Abständen, zu Oben, Mitte-Oben und zunehmend viel Unten führt. Die Krise entblößt und klärt auf.

IFSH
Ulrich Kühn

geboren 1977, ist Forschungsbereichsleiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Es kann nicht so weitergehen

Denn spätestens jetzt wissen wir, wer die „Systemrelevanten“ sind. Es sind die ausländischen Erntehelfer, die Sanitäter, die Kassierer, die Putzkräfte, die Busfahrerinnen, die Systemadministratoren, die Verwaltungsangestellten, die Krankenschwestern und Altenpfleger. Es sind all jene, die jetzt nicht klatschen.

Spätestens jetzt wissen wir auch, dass es falsch war, Sozialeinrichtungen, Renten und Krankenhäuser zu privatisieren, dass es ein Menetekel war als die Kommunen Bibliotheken und Schwimmbäder dichtmachten, dass Menschen eben keine Ich-AGs sind, dass Gesellschaften mehr als nur Investitionsmasse sind, dass globale Lieferketten neben globaler Abhängigkeit vor allem auch viele regionale Verlierer und wenige global agierende Gewinner generieren.

Und schließlich wissen wir jetzt, dass es so nicht weitergehen kann, dass es mehr als nur ein paar Schüler braucht, die sich am Freitag Sorgen um ihre Zukunft machen und dass es mehr als ein paar linke Ökonomen braucht, die das Ende der Wachstumsgesellschaft herbeireden.

Jetzt wäre es an der Zeit rauszugehen und miteinander ins Gespräch zu kommen – mit jenen, die uns täglich zur Arbeit bringen, die die Straße aufräumen, die unseren Alten das Essen bringen, die das Obst im Laden auslegen, die den Kranken im Bett wenden, die uns Paket und Pizza zustellen, die abends auf keinem Balkon stehen. Aber nur Reden und Beifall wird nicht reichen.

Vielleicht sollten wir zunächst aufhören zu klatschen und stattdessen eine ehrliche Diskussion darüber beginnen, wie die „Systemrelevanten“ auch systematisch gerecht bezahlt und respektiert werden.

Vorschläge dazu gibt es eine ganze Reihe. So könnte beispielsweise die flächendeckende Einführung von Tarifverträgen für alle Pflegekräfte oder für Angestellte in Supermärkten zu besserer Bezahlung führen – umgekehrt müssten wir dafür aber wohl auch höhere Preise akzeptieren.

Letztlich wird es nur gemeinsam gehen. Ob nun Engagement in Gewerkschaft oder Ehrenamt, durch Spenden oder die Unterstützung spezifischer Petitionen für bessere Bezahlung systemrelevanter Berufe – jeder Einzelne kann etwas beitragen. Dafür darf es dann auch gerne etwas mehr sein als nur zwei Minuten Beifall.

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4 Kommentare

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  • 0G
    05158 (Profil gelöscht)

    Nina Böhme:



    ...."



    Wut, Trauer,Hilflosigkeit, Angst. Die positiv besetzten Substantive sind rar gesät. Und wenn sich wieder eins in den Vordergrund drängt z. B. klatschende Solidarität, bin ich sofort bei der Krankenschwester Nina Böhme.....wir sollen jetzt die Helden sein und werden so behandelt? Und euer Klatschen könnt ihr euch sonstwohin stecken....Tut mir leid...wenn ihr helfen wollt oder es zeigen wollt, wie viel wir Wert sind, dann helft uns für bessere Bedingungen zu KÄMPFEN!

    Wäre es nicht an der Zeit, die Farbenlehre zu verändern!



    Schwarz, Grün, Rot( Dunkelrot , gar Blau was mitunter in Schwarz übergeht sind zu vernachlässigen)



    Komplementärfarben.



    Farbe, welche mit seinem jeweiligen Komplement gemischt weiß ergibt .



    Weiß, wie Unschuld? Neuanfang?

  • Artikel-Zitat: "(...) umgekehrt müssten wir dafür aber wohl auch höhere Preise akzeptieren. (...)"



    Es fängt ja derzeit schon bei den Erntehelfern, den Saisonarbeitskräften an, welche nicht mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von 9,35 Euro brutto/h für ihre harte Arbeit erhalten und sich ein vier Mann-/ Frau-Zimmer teilen müssen; damit das Königsgemüse Spargel für Jedermann erschwinglich ist. Ganz ähnlich sieht es in der Fleischindustrie aus. Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in Westeuropa!



    “(…) Übrigens klagen französische Bäuerinnen und Bauern, dass die deutschen Landwirte den Markt dort mit billigem Spargel überfluten, weil der Mindestlohn bei uns niedriger ist als auf der anderen Rheinseite. Die französischen Arbeitgeber verlangen inzwischen von den deutschen Gewerkschaften, dass sie für höhere Löhne in der Landwirtschaft sorgen sollen. Das ist doch absurd! (...)“

    www.zeit.de/arbeit...hel-peco-insititut

  • 0G
    01062 (Profil gelöscht)

    Guter Artikel!

    Das abendliche Klatschen ist bestenfalls nett gemeint.

    Eigentlich geht es aber eher um den eigenen Wohlfühlfaktor in der Krise, aufgrund "schlechten Gewissens", dann man hat ja "unterstützt".

    Die Nachbarn und Freunde, der Arbeiter und Arbeiterinnen klatschen nicht. Sie gehen für sie einkaufen, unterstützen auf andere Art und Weise und müssen meistens selbst noch arbeiten und Kinder betreuen.

    Zum Klatschen bleibt da keine Zeit.....

  • Vielleicht ist es nicht unbedingt zielführend, Verwaltungsangestellte, Kassierer, Putzkräfte, Busfahrer, Erntehelfer auf der einen, und



    Sanitäter, Systemadministratoren, Krankenschwestern, Altenpfleger auf der anderen Seite, gemeinsam zu betrachten. Erstere Jobs sind erstens noch viel schlechter bezahlt als Zweitere. Außerdem ist wirklich jeder durchschnittlich gesunde Mensch in der Lage die Jobs der "ersten Kategorie" auszuführen (Gut, putzen und ernten geht auch ziemlich auf die Knochen, also bis 67 wird's schwer). Um Jobs der zweiten Kategorie auszuführen bedarf es einer umfangreichen theoretischen und praktischen Ausbildung. Dazu kommt noch, dass die Jobs der ersten Kategorie mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe der nächsten 20-30 Jahre vollständig und ausnahmslos wegfallen werden. Mit einer finanziellen Aufwertung der Jobs der ersten Kategorie könnte es also schwer werden.