Boliviens heikle Übergangsphase: Virus verschiebt Wahl
Die Wahlkommission hat den Urnengang auf unbestimmte Zeit verschoben. Übergangspräsidentin Jeanine Áñez bleibt vorerst im Amt.
Übergangspräsidentin Jeanine Áñez hatte kurz vor der Entscheidung der Wahlkommission eine zweiwöchige Ausgangssperre angeordnet. Bolivien ist nach Argentinien, Kolumbien und Honduras das vierte lateinamerikanische Land, in dem die Regierung diese Maßnahme ergreift. In Bolivien sind 20 Infizierte (Stand Samstag) registriert.
„Diese Maßnahme macht es der Wahlbehörde unmöglich, die Wahl weiter vorzubereiten“, sagte der Präsident des Obersten Wahlgerichts, Salvador Romero, am Samstag in La Paz. Er setzte alle Wahlkampfaktivitäten aus. Mit der Wahl im Mai sollten die Präsidentschaft samt Vize sowie 36 Senator*innen und 120 Abgeordnete bestimmt werden.
Bis auf die MAS-Partei von Ex-Präsident Evo Morales waren alle Parteien mit der Verschiebung einverstanden. Deren Kandidat, Ex-Wirtschaftsminister Luis Arce liegt in den Umfragen weit vorn: Zwischen ihm und dem zweitplatzierte Carlos Mesa (Comunidad Ciudadana) sind demnach mehr als 10 Prozentpunkte Unterschied. Das bedeutet, dass Arce ohne Stichwahl Präsident werden könnte.
Umfragen sahen bisher Morales' früheren Vize Arce vorn
Im Gegensatz zu Morales gilt er als leise und nachdenklich. Gegen Arce wird – wie gegen hunderte von Morales’ ehemaligen Mitarbeiter*innen – wegen angeblicher Korruption und des Abzweigens staatlicher Gelder ermittelt. Beweise dafür werden noch gesucht.
Seit den Unruhen nach der Präsidentschaftswahl vom 20. Oktober 2019 ist Bolivien in einer Übergangsphase. Der linksgerichtete indigene Präsident Morales wollte sich zum vierten Mal wieder wählen lassen. Schon seine Kandidatur war umstritten. Denn die Bolivianer*innen hatten die dazu nötige Verfassungsänderung per Referendum abgelehnt. Erst das Oberste Gericht machte den Weg für eine erneute Kandidatur frei.
Die Wahl selbst war von Manipulationsvorwürfen überschattet. Morales erklärte sich mit mehr als 10 Prozentpunkten Abstand zum Zweitplatzierten Carlos Mesa ohne Stichwahl zum Wahlsieger. Darauf gingen Tausende auf die Straßen und forderten erst eine Stichwahl, schon bald aber Morales’ Rücktritt wegen Wahlbetrugs.
Im November meuterten erste Polizisten, die größte Gewerkschaft entzog Morales die Unterstützung und das Militär legte ihm den Rücktritt nahe. Morales erklärte schließlich seinen Rücktritt und floh nach Mexiko. Seitdem ist Áñez Übergangspräsidentin.
Frühere Oppostionsführer erliegen Verlockungen
Anhänger von Morales sprechen von einem Putsch. Das Magazin New Yorker schreibt jüngst in einem Artikel mit Titel „Der Sturz von Evo Morales“: „Morales’ mutmaßlicher Wahlbetrug und dass seine Partei ohne ihn Neuwahlen akzeptierte, machen es schwer, seinen Sturz einen Putsch zu nennen. Áñez’ Verhalten macht es schwer, dies nicht zu tun.“
Áñez stammt aus einer Regionalpartei, die nur vier Prozent der Stimmen errungen hatte. Da nach Morales' Rücktrittserklärung alle Politiker*innen seiner MAS in der Rangfolge vor ihr auch zurücktraten, kam die rechtskonservative zweite Vizepräsidentin des Senats zum Zug – und zog bibelschwingend in den Präsidentenpalast ein. Ein Affront für Morales’ indigene Stammwählerschaft, die ihr Rassismus vorwirft.
Áñez präsentierte zuerst ein rein weißes Kabinett und nominierte nur auf Proteste hin eine indigene Ministerin nach. Nach ihrem Amtsantritt begingen staatliche Sicherheitskräfte Menschenrechtsverletzungen an den meist indigenen Demonstrierenden – gedeckt von einem Dekret, das ihnen Straffreiheit sicherte. Dabei starben mindestens 33 Menschen.
Áñez hatte stets gesagt, sie wolle nur Wahlen organisieren, das Land befrieden und sich dann zurückziehen. Für das Übergangsmandat sind eigentlich nur 90 Tage vorgesehen. Schon früh war abzusehen, dass die Zeit kaum reichen dürfte, um Neuwahlen zu organisieren. Aber jetzt Áñez tritt sogar bei der Präsidentschaftswahl an.
Sie traf bereits weitreichende außenpolitische Entscheidungen: So trat ihre Regierung aus der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA), verkündete den Austritt aus UNASUR und den Eintritt in die Lima-Gruppe. Sie verwies kubanische Mediziner*innen des Landes, brach die Beziehungen mit Kuba ab und verwies spanische und mexikanische Diplomat*innen des Landes.
Religöser Fundamentalist will Präsident werden
Eine ähnliche Wende legte Luis Fernando Camacho hin, der nahezu aus dem Nichts an die Spitze der Oppositionsbewegung kam. Als Präsident der Bürgervereinigung der Tiefland-Stadt Santa Cruz – eine Art Unternehmergremium – war er eine der treibenden Kräfte der Proteste. Er stritt wie Áñez wochenlang jegliche politische Ambitionen ab. Im Dezember gab er dann seine Kandidatur bekannt.
Er gilt als religiöser Fundamentalist. Camachos Name taucht in den Panama Papers auf. Er soll drei Offshore-Gesellschaften geschaffen haben, um Geld am Fiskus vorbei zu schleusen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!