Berlin sucht die Mobilitätswende: Schwieriger Spurwechsel
Mit dem Mobilitätsgesetz soll auf Berlins Straßen vieles anders werden. Am besten besser für alle. Aktivisten geht der Umbau nicht schnell genug.
M ontagmorgen 8.30 Uhr auf der Kantstraße in Charlottenburg: Gekleidet in schwarze, pinke oder neongelbe Regenmontur steht eine Handvoll Menschen vor dem Eingang des Schwarzen Cafés, während Nieselregen auf sie und ihre Fahrräder tropft. Heinrich Strößenreuther ist ein bisschen unruhig, obwohl der groß gewachsene Mann im grauen Mantel das gut verbergen kann. Er ist der Anmelder der wöchentlichen Demo für einen sofortigen Umbau der Kantstraße, und eigentlich geht es Punkt halb los. Hundert Meter weiter westlich auf dem Savignyplatz wartet die Polizei auf den Start. „Letzte Woche waren es deutlich mehr“, sagt Strößenreuther und schiebt die spärliche Beteiligung auf das Wetter.
Die Demos sind eine Antwort auf den Unfall, der sich Anfang Februar auf dem Savignyplatz ereignete: Ein Autofahrer, ein Raser, scherte aus, um ein anderes Fahrzeug rechts zu überholen, kam dabei auf die Busspur und prallte auf einen Radfahrer, der dort ganz vorschriftsgemäß unterwegs war. Der 64-Jährige wurde durch die Luft geschleudert, er starb wenig später im Krankenhaus. Es war nach gerade einmal fünf Wochen der fünfte tote Radfahrende im laufenden Jahr – und das angesichts der „Vision Zero“, die seit Juli 2018 im Berliner Mobilitätsgesetz verankert ist: dem politischen Ziel, die Zahl der tödlichen Unfälle im Straßenverkehr langfristig auf null zu senken.
Zwei Tage später, am 9. Februar, gab es eine von Fahrrad- und Mobilitätsinitiativen angemeldete Mahnwache an der Unfallstelle, wo Kerzen und Blumen an einem Baumstumpf an den Toten erinnern. Auch Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) kam. Dass es damit nicht sein Bewenden hatte, sondern seitdem jeden Montag demonstriert wird, ist, man kann das wohl so sagen, eine typische Idee des Aktivisten Strößenreuther. Der Mann, der den Volksentscheid Fahrrad anstieß, hat ein Gespür dafür, wann es lohnt, nachzuhaken und den Verantwortlichen auf die Nerven zu gehen. In diesem Fall fordern er und seine MitstreiterInnen eine sofortige Neuaufteilung der Kantstraße bis Ende März.
Typisch für Strößenreuther ist auch sein Einsatz von Wording, also der beharrliche Einsatz von Begrifflichkeiten, die beim ersten Hören seltsam klingen, sich aber festsetzen und die Wahrnehmung von Problemen verändern sollen. In diesem Fall fordert er, die Kantstraße „einfach nur zu legalisieren“. Soll heißen: auf beiden Seiten Umwandlung der Parkspur zum Radweg – „gemäß Mobilitätsgesetz“. Umwandlung der „illegalen Parkspur (mittlere Fahrbahn)“ zur Parkspur. Und: „Die Fahrspur bleibt Fahrbahn.“ „Illegale Parkspur“ bezieht sich auf das weit verbreitete Parken in zweiter Reihe – das im Fall der boomenden Paketdienste von der Polizei sogar toleriert wird.
Hatte Strößenreuther diesmal nicht den richtigen Riecher? Vielleicht doch: Im Minutentakt gesellen sich RadlerInnen zu dem Grüppchen, das immerhin noch auf drei Dutzend Personen anwächst. Um 8.40 Uhr bekommt die Polizei ihr Zeichen, die sperrt den Autoverkehr, alle begeben sich auf die Straße, und der Anmelder schmettert durchs Megafon: „Guten Morgen, Berlin!“ – einen Ruf, den alle erwidern und dann noch mal, weil es nicht laut genug war. „Das Schlimmste, das Gefährlichste habt ihr heute trotz Coronavirus schon hinter euch gebracht, nämlich den Weg hierher“, sagt Strößenreuther. „Wir wollen nur sicher und entspannt Rad fahren“, betont er, sein Mantra seit Jahren, und: „Ich habe mir sagen lassen, dass es hinter den Kulissen anfängt zu brodeln. In der Bezirksverordnetenversammlung werden unsere Forderungen diskutiert!“
Zäsuren im öffentlichen Leben wie die Coronakrise kann allerdings auch ein Heinrich Strößenreuther nicht einplanen. Gut möglich, dass sein Kantstraßen-Coup den Ausnahmezustand, in den Berlin sich gerade eingroovt, nicht überlebt. Weitermachen wird er allemal, und er ist auch nur eines der bekanntesten Gesichter des Verkehrswende-Aktivismus, der in Berlin ein fester politischer Faktor geworden ist. Hunderte Aktive und viele Tausende SympathisantInnen halten die vor fünf Jahren losgetretene Bewegung am Laufen und fordern die Umsetzung des Mobilitätsgesetzes ein, lautstark auf Demos und omnipräsent in den sozialen Medien wie Twitter und Facebook.
Wenn man gerade dort die Diskussionen verfolgt, erhält man schnell den Eindruck, dass die Ungeduld und der Zorn schneller wachsen als die politischen Fortschritte, die es zweifellos gibt. Auf jeden abgepollerten Radstreifen, der hier und da entsteht, kommen zahllose kritische Kommentare, Beobachtungen, Beweisfotos, wo andernorts etwas nicht funktioniert, sich nichts bewegt, Gefahren drohen. Die Geschwindigkeiten, mit denen sich – gesetzlich untermauerte – Ansprüche auf mehr Fläche und mehr Sicherheit artikulieren und auf der anderen Seite die Verwaltung die Ansprüche umsetzt, scheinen immer weiter auseinanderzugehen.
Dabei sind es nicht nur anonyme Postings im Netz, sondern ganz reale Menschen, die am gemächlichen Tempo der Mobilitätswende verzweifeln. Sie sitzen nach der Demo mit Strößenreuther und dem taz-Reporter im Schwarzen Café. „Bei uns in der Schule haben die vierten Klassen gerade Verkehrserziehung“, sagt eine Lehrerin, die sich beim Netzwerk Fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg engagiert, „und ich kann es eigentlich gar nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, denen zu sagen, dass sie ab jetzt nicht mehr auf dem Gehweg fahren sollen.“
Wenn etwas passiere, seien nicht die Kinder daran schuld, aber das Risiko sei auf der Fahrbahn eben viel höher. „Unser Tod wird von den Behörden fahrlässig in Kauf genommen, jeden Tag. Ich bin so sauer!“ Ein anderer Mann fordert vehement baulich abgetrennte, sichere Radwege und meint: „Es baut doch auch niemand eine Treppe ohne Geländer und sagt: Haltet euch schön am Rand, damit ihr nicht runterfallt.“
Auch Strößenreuther spricht von „Wut und Ohnmacht“, sagt, die Initiativen seien „alle genervt, dass es keine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Senat gibt“. Die Unfallkommission habe sich seit dem Tod des Radfahrers nicht auf der Kantstraße blicken lassen. Das Gremium besteht aus der Verkehrslenkung Berlin (VLB) – lange Zeit eine eigenständige und oft als inkompetent gescholtene Behörde, mittlerweile eine Abteilung der Senatsverkehrsverwaltung –, der Polizei und den Baubehörden von Land und Bezirken. Warum die Kommission auf der Kantstraße nicht aktiv wird, erschließt sich, wenn man in der Selbstbeschreibung ihrer Aufgaben Folgendes liest: „Manche Verkehrsunfälle sind Einzelfälle und Folge einer unglücklichen Verkettung von Ereignissen und finden in der Regel auch nicht an Unfallhäufungsstellen statt.“
Heinrich Strößenreuther, Radaktivist
Das dürfte aus Sicht der Kommission für die Kantstraße zutreffen, wobei hier die – in diesem Fall: kriminelle – Regelverletzung des Autofahrers im Vordergrund steht. Aus Sicht vieler RadaktivistInnen ist es aber möglich, solche Unfälle durch die bauliche Trennung von Autos und Fahrrädern auszuschließen, sie sprechen von „fehlerverzeihender Infrastruktur“. Nur, wie massiv müssten solche baulichen Eingriffe sein? Vor wenigen Tagen erst rasierte ein Autofahrer ein Dutzend Metallpoller am Anfang der Neuköllner Karl-Marx-Straße. Einem Radfahrenden hätten sie schlimmstenfalls keinen Schutz geboten, und anderswo, etwa an der Holzmarktstraße in Mitte, sind die rot-weißen Röhren sogar aus flexiblem Kunststoff. Prompt wird auf Twitter der Ruf nach Betonpollern laut.
Poller fordert auch Jens Blume – für die Oberbaumbrücke. Der Umweltingenieur, der sich bei Changing Cities e. V. für die Verkehrswende engagiert, geht einen anderen Weg als Strößenreuther: Er nutzt das Mittel des formalen Widerspruchs gegen Verwaltungsentscheidungen. Im Fall der von RadlerInnen viel befahrenen Brücke zwischen Friedrichshain und Kreuzberg, die im vergangenen Jahr saniert worden war, machte er sich zum Sprachrohr der Bewegung und schickte der Verkehrsverwaltung im Oktober ein Schreiben. Darin kritisierte er die zu schmal geratenen und ungeschützten Radstreifen als nicht konform mit dem Mobilitätsgesetz und monierte, dass die eine überbreite Kfz-Spur pro Richtung zu illegalen Überholmanövern und zum Überfahren des Auto-Fahrrad-Trennstreifens animiere.
Das alles war keine Theorie, sondern von AktivistInnen ausgemessen und dokumentiert worden. Die dreimonatige Frist zur formalen Erwiderung ließ die Verkehrsverwaltung verstreichen, woraufhin Blume am 5. März eine mehrseitige Klageschrift an das Berliner Verwaltungsgericht in Moabit sandte und gleichzeitig auf Twitter veröffentlichte. Schon vier Tage später erhielt er Post von der Verkehrsverwaltung, in der der Leiter der Verkehrslenkung ihm mitteilte, die Linien auf der Brückenfahrbahn seien tatsächlich falsch gezogen und würden korrigiert – auf künftig drei Meter Radstreifen plus einen Meter Sicherheitsstreifen zu den Kfz, die ihrerseits zurückstecken müssen. In den sozialen Medien wurde der Kläger aus der Szene mit Lob überschüttet.
Allerdings spricht Blume selbst nur von einem Teilerfolg, denn seine Forderung nach Pollern oder vergleichbaren baulichen Maßnahmen, um die Autos wirklich dort zu halten, wo sie hingehören, will die Verkehrslenkung separat prüfen. Damit lässt sie sich auch Zeit, denn ab April wird das Hochbahnviadukt der U1 saniert, und für den Schienenersatzverkehr mit Bussen könnte die Verkehrsführung monatelang abgewandelt werden, vielleicht sogar im Einbahnstraßenbetrieb Richtung Kreuzberg. Schon vorher eine bauliche Trennung vorzunehmen, mache keinen Sinn, so die Verkehrslenkung an Blume. Der hält für die Übergangszeit jedenfalls schon mal fest: „Dem Umweltverbund ist Vorrang zu gewähren, auch während Baustellen. Steht so im wunderbaren Mobilitätsgesetz.“ Was bedeute: „Rad und Bus müssen sicher hinübergeführt werden, und nur, wenn dann noch Platz ist, darf übriger Verkehr rüber.“
Ein letztes Beispiel: Auf der Holzhauser Straße in Reinickendorf hatte es schon am 1. Februar einen tödlichen Unfall gegeben, als ein rechts abbiegender Lastwagen eine 79-jährige Radfahrerin überrollte. Der ADFC, der seit Jahren an diesen Stellen weiße „Geisterfahrräder“ aufstellt, kritisierte scharf, dass an derselben Stelle schon 2013 eine Radfahrerin schwer verletzt wurde, die Verwaltung aber danach nichts unternommen habe.
ADFC-Sprecher Nikolas Linck veröffentlichte auch noch ein Handyvideo von der betreffenden Ampelanlage: Auto- und Radampel springen dort gleichzeitig auf Grün, für die Radfahrenden dauert die Grünphase allerdings nur 5 Sekunden, es folgen 27 Sekunden Exklusiv-Grün für den Kfz-Verkehr. „Gib diese mickrigen 5 Sekunden dem Radverkehr allein, und du hast keine Abbiegeunfälle mehr“, twitterte Linck. „Autogerechte Stadt, du kotzt mich an.“
Das Berliner Mobilitätsgesetz (MobG) soll den „Umweltverbund“ stärken – Fuß-, Rad- und ööffentlicher Nahverkehr, vereinfacht gesagt: alles, was kein Auto ist. Die ersten Teile des deutschlandweit einzigartigen Gesetzes traten im Juli 2018 in Kraft.
Der Radverkehr wird in Berlins „Modal Split“ – der Verteilung der Verkehrsträger – immer wichtiger: Nach einer gerade vorgelegten aktuellen Studie der TU Dresden stieg er von 13 Prozent im Jahr 2013 auf 18 Prozent in 2018.
Vorangegangen war dem Gesetz der zivilgesellschaftliche Prozess, der im Sommer 2016 zum „Volksentscheid Fahrrad“ führte – genauer: bis zum Antrag auf Durchführung eines Volksbegehrens. Da fast 100.000 Unterschriften gesammelt wurden, verhandelte die neue rot-rot-grüne Koalition mit den Initiatoren über ein Gesetz.
In Kraft sind die Abschnitte zu ÖPNV und Radverkehr. Letzterer verspricht jede Menge Infrastruktur: 130 Kilometer Radschnellverbindungen, sichere Radverkehrsanlagen an allen Hauptverkehrsstraßen und ein „Vorrangnetz“ von 1.000 Kilometern. Die Kreuzungen sollen sicher gemacht werden, mindestens 100.000 Abstellanlagen sind vorgesehen
Über Geld steht im Gesetz nichts, aber die Koalition hat die Radverkehrsmittel massiv aufgestockt – 2020 sind es circa 30 Millionen Euro. Festgelegt ist, dass jeder Bezirk zwei IngenieurInnen für Radverkehrsplanung beschäftigt. Etliche Bezirke haben das noch nicht umgesetzt.
Zurzeit liegt der Abschnitt zum Fußverkehr im Abgeordnetenhaus. Er sieht unter anderem mehr Querungshilfen von Straßen wie Mittelinseln und abgesenkte Bordsteine vor, längere Grünphasen, aber auch mehr verkehrsberuhigte Bereiche oder Fußgängerzonen.
Auf taz-Anfrage teilt Linck mit, dass die Radfurt an der Kreuzung mittlerweile nach vorn versetzt und rot angemalt wurde. Viel wichtiger sei jedoch die Umprogrammierung der Ampel – da habe die Verkehrslenkung vor zwei Wochen signalisiert, die Schaltung solle „innerhalb von vier Wochen“ geändert werden, mit einer eigenen Grünphase für die RadlerInnen. „Falls die Verwaltung das in diesem Zeitraum schafft, begrüßen wir das sehr“, so der ADFC-Sprecher, es klingt nicht sonderlich zuversichtlich.
Überhaupt findet man beim ADFC, dass die Umsetzung des Mobilitätsgesetzes noch immer nicht in Schwung komme. Der Senat baue Strukturen auf, hänge aber „mächtig hinterher“, so Linck. Wichtige Arbeitsgrundlagen, die das Mobilitätsgesetz einfordert, fehlten immer noch, namentlich das berlinweite Radnetz und der Radverkehrsplan, in dem Standards und Quantitäten definiert werden. Das Netz hätte laut Gesetz schon Mitte 2019 fertig sein müssen, es ist aber immer noch in Arbeit, der Plan hat laut Gesetz noch bis zum kommenden Sommer Zeit, aber, so Linck: „Es ist jetzt schon absehbar, dass dies nicht passieren wird. Es gibt keinen bekannten Zeitplan zu seiner Erstellung und keine erkennbare Steuerung.“ Mehrere „Eskalationsmeetings“ mit Senatorin Günther und Verkehrsstaatssekretär Ingmar Streese hätten nur zu der Erkenntnis geführt, „dass keine Besserung der Situation absehbar ist“.
Beim anderen großen Player der Radszene, dem Verein Changing Cities mit seinem „Fahrradfreundlichen Netzwerken“ in allen Bezirken, sieht man das genauso. Sprecherin Ragnhild Sørensen verweist noch auf weitere Leerstellen: Es fehlten der Leitfaden Baustellen, der Leitfaden Fahrradstraßen und die Ausführungsvorschrift (AV) Geh- und Radwege – alles wichtige Dokumente: „Die Planer sowohl in den Bezirken als auch im Senat haben also de facto keine mobilitätsgesetzkonforme Grundlage, nach der sie arbeiten können.“ Allein die Radschnellverbindungen, die von der neu gegründeten landeseigenen Infravelo GmbH geplant werden, stellten eine „vielversprechende“ Ausnahme dar. Hier gebe es überprüfbare Zeitpläne und Zielvorgaben, Baubeginn der ersten Projekte sei wohl 2022/23.
„Das Problem ist, dass das Vertrauen schwindet“, sagt Sørensen. „Wenn der Senat klar kommunizieren würde, wie schwierig und umfassend die Aufgabe ist, in welchen Schritten der Ausbau stattfinden soll, wie man Zeitverzug ‚wiedergutmachen‘ und die Menschen für eine autoarme Stadt begeistern und mitnehmen will, dann würden wir über einen holprigen Start sprechen und nicht über Umsetzungsdefizite.“
Ingmar Streese, Staatssekretär
Was sagt die grün geführte Verkehrsverwaltung zu all diesen Vorwürfen? Nachfrage bei Staatssekretär Ingmar Streese: Wie weit ist Berlin prozentual mit dem Umbau der Straßeninfrastruktur? Das lasse sich so nicht sagen, meint Streese, denn das Radverkehrsnetz als Zielvorgabe sei ja noch in Erarbeitung. Zusammen mit dem Radverkehrsplan werde es „voraussichtlich Ende dieses Jahres“ vorliegen. „Es sind komplett neue Planwerke, nie da gewesen in Berlin“, so Streese, „von daher gilt hier Sorgfalt unbedingt vor Schnelligkeit, selbst wenn die vorgegebenen Fristen im Gesetz so nicht eingehalten werden können.“ Er verweist darauf, dass die zuerst mit dem Netz beauftragte Beratungsfirma den Auftrag aus firmeninternen Gründen nicht beenden konnte. „Wir vergeben den Auftrag daher neu.“
Im Übrigen will Streese den Vorwurf nicht einfach im Raum stehen lassen, dass nichts geschehe: „Das Netz wird jetzt schon an Hunderten von Stellen ausgebaut und oder saniert, die bisherigen Protected Bike Lanes und die bisherigen Grünbeschichtungen sind nur ein Teil davon.“ Der Politiker verweist darauf, dass die Mittel für den Radverkehr von 2018 auf 2021 nahezu verdoppelt worden seien, die Planerstellen auf Landes- und Bezirksebene zusammen sogar verfünfzehnfacht. Die Bezirksämter, die bei fast allen Projekten mit der Umsetzung betraut seien, setzten den Ausbau „kontinuierlich“ um. „Allerdings rufen einige Bezirke von den zur Verfügung stehenden Mitteln deutlich höhere Summen ab als andere.“ 2018 und 2019 seien diese Summe jeweils zu 71 Prozent ausgeschöpft worden. „Das ist gut, aber steigerbar.“ Das gesamte Ausbauprogramm befinde sich eben noch in der Hochlaufphase.
Ein neuralgischer Punkt des Gesamtprozesses sind in der Tat die fehlenden Kapazitäten in etlichen Bezirksämtern. Während der Planungsstab für den Radverkehr in der Senatsverwaltung massiv ausgebaut wurde, haben viele Bezirke immer noch Schwierigkeiten, die jeweils zwei vorgesehenen PlanerInnen tatsächlich einzustellen. Oliver Schruoffeneger, grüner Baustadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf, kann ein Lied davon singen: „Wir haben immer noch keine Radingenieure“, sagt er der taz. Nachdem einer bereits eingestellt war und die Verwaltung wieder verließ, habe man wieder beide Stellen ausschreiben müssen. Aber: „Der Markt ist völlig leergefegt.“ Das Gehalt als PlanerIn in der Bezirksverwaltung sei eben auch „weit entfernt von dem, was man in privaten Unternehmen verdiene“ – und in der Senatsverwaltung. „Im Moment kommen wir unserer Verkehrssicherungspflicht nach“, so Schruoffeneger, „alles andere ist personell nicht machbar.“ Ist das nicht deprimierend? „Absolut.“
In der Senatsverwaltung sieht man das ein bisschen anders: Einige Bezirke wie etwa Friedrichshain-Kreuzberg seien sehr aktiv bei der Umsetzung und beim Mittelabruf, andere deutlich weniger, sagt Ingmar Streese. Einige hätten zu den geltenden Bedingungen auch längst PlanerInnen gefunden, andere nicht. „Da es in einigen Bezirken sehr gut funktioniert“, sei aus Sicht der Senatsverwaltung „nicht grundsätzlich davon auszugehen, dass es anderswo nicht auch funktionieren kann.“
In Sachen Sicherheit hat der Staatssekretär übrigens kein Verständnis dafür, wenn – wie nach dem Unfall auf der Kantstraße vorgekommen – AktivistInnen von „Mord an Radfahrenden“ sprechen und dabei offenlassen, ob sie Personen oder Strukturen als TäterInnen betrachten. „Diesen Vorwurf, der ja Absicht und Heimtücke unterstellt, halte ich für in keiner Weise akzeptabel.“ Er diene weder der Debatte noch einem guten gesellschaftlichen Klima. „Richtig und wichtig“ sei aber, dass Verkehrstote heute nicht mehr als Kollateralschaden von Mobilität hingenommen würden, sondern Verkehrssicherheit ganz klar als Aufgabe für die Politik gelte. Die „Vision Zero“ ist für Streese ein „neues Paradigma, das die StVO gegen den Strich bürstet, weil sie die Sicherheit der Verkehrsteilnehmenden vor den Verkehrsfluss stellt“.
Stadtrat Oliver Schruoffeneger würde die Kantstraße übrigens am liebsten noch viel radikaler umbauen als die AktivistInnen – wenn er denn könnte. Auf einer Seite nur Fahrräder, auf der anderen Kfz-Verkehr in beide Richtungen. „Dann hätten wir eine klare Trennung.“
Die von Strößenreuther und Co. vorgeschlagene Neuaufteilung hält er mehr für symbolisch: „So einen Unfall wie den auf dem Savignyplatz verhindern Sie damit nicht, da können Die die Fahrbahn so viel markieren, wie Sie wollen.“ Dass eine Umsetzung seiner Idee eher langfristigen Charakter hätte, weiß der Grünenpolitiker aber auch: „Da müssen Sie an jeder Abbiegestelle die Kurvenradien anpassen und alle Ampelschaltungen anpassen. Das geht nicht von heute auf morgen.“
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