Corona-Management in Deutschland: Hort der Krisenverschleppung
Nach zähem Entscheidungsprozess kommt es zu einem so genannten Geisterspieltag in der Bundesliga. Ein paar Gedanken zum Umgang mit dem Corona-Virus.
I m Netz kursierten schon Mitte Januar merkwürdige Videos. Menschen kollabierten einfach so auf der Straße. Bürger von Wuhan wurden in ihren Wohnungen regelrecht eingesperrt. Wer sich nicht an die restriktiven Maßnahmen hielt, mit Fieber in der Öffentlichkeit unterwegs war oder ohne Mundschutz, der wurde auch schon mal brutal aus dem Auto gezerrt und von der chinesischen Polizei drangsaliert. Den Rest erledigten Bürgerkomitees, die ein waches Auge auf ihre Mitbürger in den großen Wohnblocks hatten.
All diese Bilder ergaben für denjenigen, der sich in der Frühphase der Seuche mit Corona beschäftigte, ein Bild potenzieller globaler Gefährdung. Wer sich dann noch mit der exponentiellen Entwicklung dieser Krisen, also der sprunghaften Verbreitung von Viren beschäftigte und in Betracht zog, dass dieser neue Coronavirus hoch ansteckend ist und wegen der nicht vorhandenen Herdenimmunität ein ernstes Problem vor allem für ältere und kranke Menschen darstellt, der zählte nur noch die Tage, bis das Virus an die eigene Haustür klopft und Probleme schafft.
Diese Art der unheimlichen Beobachtung aus der Ferne erklärt übrigens auch das schon früh einsetzende Hamstern von Desinfektionsmitteln und Mundschutz hierzulande. Es erklärt freilich nicht, warum sich die Krisenstäbe in Deutschland in Winterschlaf begaben. Die Wurstigkeit deutscher Behörden ahnend, sorgte man vor, bestellte dies und das, kümmerte sich – was im Übrigen weder hysterisch noch panisch ist, sondern normales präventives Handeln.
Von Pontius zu Pilatus
Vor zwei Wochen, also in einer Phase, in der das Virus längst in Italien grassierte und das lombardische Gesundheitssystem an den Rand des Kollaps brachte, da schickte ich einem guten Freund ein besonders bizarres Video aus Wuhan sowie den Erlebnisbericht eines deutschen Italien-Rückkehrers, der in der hiesigen Krisenbürokratie hilflos herumtelefonierte und von offensichtlich überforderten Mitarbeiten von Pontius zu Pilatus geschickt wurde.
Der Freund antwortete mir, ich möge ihn nicht mit so einem verschwörungstheoretischem Kram behelligen, ihn nerve die Reaktion der deutschen Angstbürger nur noch. Er sprach von einer normalen Grippe und davon, dass so ein Ereignis jeden Winter viel mehr Menschen umbringe als Corona. Mein Kumpel formulierte keine besonders exklusive Meinung. Halb Deutschland denkt offenbar so, während ihr die andere Hälfte unter dem Hashtag #justtheflu Vorwürfe macht.
Das Land ist wieder mal gespalten, und wer in dieser Lage Orientierung sucht, sollte einfach den Empfehlungen von Virologen und Epidemiologen folgen. Sie kennen sich mit neuen Virenstämmen und der exponentiellen Ansteckungsgefahr aus, einem Problem, das förmlich nach restriktiven Maßnahmen schreit. Es kann im Grunde keine zweite Meinung über die Absage von Sportgroßveranstaltungen in der jetzigen Lage geben.
Wenn das Virus jetzt dazu ansetzt, von Wirt zu Wirt zu hüpfen als handele sich um einen olympischen Dreisprung für Mikroorganismen, dann gilt es schlicht und ergreifend, die Verbreitung zu verlangsamen, damit die Krankenhäuser einen möglichen Ansturm von schwer lungenkranken Menschen bewältigen können.
Herr Schulze aus Kleinkleckersdorf
Warum am Dienstag in Berlin noch eine Freigabe für das Fußballspiel von Union gegen Bayern vom zuständigen Gesundheitsamt erteilt und erst am Folgetag revidiert wurde, das „verwunderte“ nicht nur Gesundheitsminister Jens Spahn, sondern jeden halbwegs geradeaus denkenden Zeitgenossen. Allerdings ist Spahn nicht ganz unschuldig an der Situation, weil er mit seiner „Ermunterung“ zur Absage von Veranstaltungen mit über 1.000 Zuschauern die Verantwortung an Herrn Schulze und Frau Müller vom Gesundheitsamt in Kleinkleckersdorf delegiert hat.
Das mag der korrekte Dienstweg sein, aber sollen Mitarbeiter eines kleinen Amtes in Köpenick wirklich darüber entscheiden, ob in Berlin mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern ein paar hundert Opas mehr oder weniger das Zeitliche segnen – oder wäre eine einheitliche Regelung zum Schutz der vulnerablen Bevölkerung nicht zwingend? Wo sind die großen Moralisierer und Schlauredner im Netz, wenn es um die Gesundheit der Alten und Kranken geht?
Schon klar, es ist nicht sexy und in der linken Szene auch eher verpönt, auf zentralistische Weisungen von oben zu warten, Corona aber verlangt danach. Das nannte man früher mal die normative Kraft des Faktischen. Oder anders gesagt: Man tut mit einer gewissen Entschlusskraft, was geboten ist. Aber im Wirrwarr von Zuständigkeiten, einem dysfunktionalem Kuddelmuddel und einer Verantwortungsflucht, deren sichtbarste Zeichen PR-Geklingel und Presseerklärungen sind, erweist sich Deutschland als Hort der Krisenverschleppung.
Was ist so schlimm daran, möchte man fragen, das Primat des Ökonomischen drei, vier Wochen hintanzustellen und Fans aus den großen Fußballarenen zu verbannen? Warum zieren sich die Verantwortlichen derart? Wieso halten die großen Sportligen in Deutschland die Füße so lange still, bis Frau Müller vom Gesundheitsamt anruft? Richtig, sie verlieren Geld. Andere verlieren ihr Leben.
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