: Leben von 311 Euro ist gerichtsfest
Das Arbeitslosengeld II verstößt nicht gegen die Verfassung, sagt das Berliner Sozialgericht. Berufung angekündigt
BERLIN taz ■ Die Höhe des Arbeitslosengeldes II verstößt nicht gegen das Grundgesetz. So sieht es das Sozialgericht Berlin, das gestern die Klage einer Betroffenen auf ein höheres Arbeitslosengeld II abwies. Die Klägerin Margitta Czyzewski, eine 55-jährige Arbeitslose aus dem Ostberliner Stadtteil Lichtenberg, kündigte Berufung an. Diese hat das Berliner Sozialgericht, das größte in Deutschland, mit Verweis auf die grundsätzliche Bedeutung des Falles zugelassen. Der Fall könnte also noch vor das Bundesverfassungsgericht kommen.
Seit fast 15 Jahren ist Margitta Czyzewski arbeitslos, zuvor hatte sie in einem Ostberliner Industriebetrieb als Teile-Konstrukteurin gearbeitet. Weil sie mit ihrem frühverrenteten Mann zusammenwohnt, hat ihr das zuständige Job-Center einen monatlichen Regelsatz von 311 Euro zuerkannt. Dies verstoße gegen die Menschenwürde, so Czyzewski. Durch die Arbeitsmarktreform Hartz IV würden nun Zahlungen für Mehrbedarfe entfallen, zudem belaste die Gesundheitsreform das Budget. Die knapp 21 Euro pro Monat, die im Regelsatz für Mobilität vorgesehen seien, reichten nicht einmal, um sich das in Berlin stadtweit geltende Sozialticket für 33,50 Euro zu kaufen.
Das Sozialgericht wies die Klage zurück. Die Regelsatzfeststellung sei nicht zu beanstanden, sagte Richter Jochen Rakebrand zur Begründung. Der Gesetzgeber dürfe auch Pauschalierungen vornehmen. Allerdings sollten Ausnahmen für einmalige Beihilfen, etwa für die Reparatur von Haushaltsgeräten, großzügiger ausgelegt werden, so Rakebrand. In Frage kämen Darlehen der Job-Center, bei denen teilweise auf Tilgung verzichtet werden könnte. Der 61-jährige Ehemann der Klägerin, ein ehemaliger Maschinenschlosser, quittierte das Urteil mit bitteren Worten: „Ich schäme mich, mein Leben lang gearbeitet zu haben und jetzt so abgespeist zu werden.“
Mehr als 2.700 Hartz-Verfahren sind beim Berliner Sozialgericht anhängig. In den Eilentscheidungen bekämen die Betroffenen im Vergleich zu anderen Sozialprozessen überdurchschnittlich oft Recht, so ein Gerichtssprecher. Dies mag ein Hinweis auf eine Hartz-IV-Umsetzung sein, die mit Unsicherheiten behaftet ist. „Die große Klagewelle steht aber noch aus“, sagte der Gerichtssprecher. Wenn die Job-Center beurteilten, ob die Betroffenen in angemessenen Wohnungen lebten, werde es viele Streitfälle geben.
Die Arbeitsmarktreform Hartz IV, die die rot-grüne Bundesregierung unterstützt von CDU und FDP auf den Weg brachte, trat im Januar dieses Jahres in Kraft. Mit ihr verschwand die Arbeitslosenhilfe, die sich am einstmaligen Einkommen der Erwerbslosen orientierte. Nun erhalten alle Erwerbslosen, die kein Arbeitslosengeld I mehr beziehen, eine Unterstützung auf dem Sozialhilfeniveau.
RICHARD ROTHER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen