Ausstellung finnischer Fotokunst: Das Gewicht der Wurzeln
In der Lübecker Kunsthalle St. Annen zeigt die ‚Helsinki School‘ mit der Schau „Frischer Wind aus dem Norden“, wo ihre Ursprünge liegen.
Irgendwann später, viel später, entdeckt Rikala das Foto wieder: zerknickt und zerknittert, plattgesessen und verschrammt. Doch zugleich von einer ganz eigenen Ästhetik, einem eigenen Charme getragen. Das anfangs so klar erkennbare Meeresbild hat sich in ein leicht verwaschen wirkendes Exponat verwandelt, auch in ein Bild von einem Bild. Sozusagen mittels Hosenfotokunst. So entsteht nach und nach eine vierteilige Serie gemäß den Jahreszeiten: Je ein Bild einer Landschaft wird durch das Jahr getragen, hin und wieder wird sein Zustand dokumentiert, und man sieht auf ganz eigene Weise, wie die Zeit verstreicht.
Zu sehen ist Mikko Rikalas Arbeit „Year in my Pocket“ derzeit in der Kunsthalle St. Annen in Lübeck im Rahmen der Ausstellung „Frischer Wind aus dem Norden. Naturmotive in der Helsinki School“ aus Finnland. Eine Ausstellung, die einerseits in die Breite gehend, vielfältige künstlerische Positionen vorstellt, so dass man staunen kann, was und wen diese Schule alles vereint.
Und die andererseits vermittelt, dass die Helsinki School eben keinesfalls allein vom Metier der illustrativen Fotografie, sondern weit mehr vom Genre der auch theoretisch begründbaren Fotokunst getragen wird. Dass sie nämlich entscheidende Wurzeln in der Konzept-Kunst, auch der Minimal-Art und besonders in der Land-Art hat, herausgearbeitet in der amerikanischen Kunst ab den 1960er-Jahren.
Verspielt und zugleich ernst
Letzteres kann man gut anhand der Arbeiten von Jaakko Kahilaniemi entdecken, auch dazu gibt es eine Geschichte, die sozusagen den narrativen Background der installativ angelegten Arbeiten des Künstlers bildet: Denn Kahilaniemi entstammt einer Familie von Förstern und erbt einen Wald, hundert Hektar groß. Was damit tun? Ihn sich selbst überlassen, ihn nutzen – oder ihn nicht erst einmal untersuchen, erst einmal fassen was das sind: hundert Hektar?
Verspielt und mit zugleich großem Ernst dokumentiert der Künstler in seriellen Arbeiten Fundstücke vom Waldboden, hat auch Setzlinge fotografisch fixiert und katalogisiert. Wenn es sein soll, werden auch mal Baumstücke mit der Küchenwaage „Gunda“ gewogen. Daraus entsteht eine ganz eigene Waldpoesie, ohne dass jemals der Weg in die Abstraktion verbaut ist.
Elina Brotherus, so etwas wie der Star der Helsinki School, deren frühere Arbeiten deutliche Einflüsse des Fluxus zeigen, präsentiert Fotografien, die auf Aufgabenstellungen des unlängst verstorbenen Konzeptkünstlers John Baldessari zurückgehen. Etwa: einen Ball in die Luft werfen und versuchen, ihn dann zu fotografieren, wenn er genau in der Bildmitte angekommen ist – was man entsprechend oft wiederholen muss und was auch vom Scheitern als Motor des Ansporns berichtet. Oder: Auf einem Bein stehen und Balance halten, wovon ein Video erzählt. Aufgenommen ist es während eines Gastaufenthaltes auf Föhr, eingeladen war die Künstlerin vom dortigen „Museum Kunst der Westküste“.
Natürlich hat auch der Klimawandel längst seine Spuren in den Arbeiten der Helsinki School hinterlassen, etwa in den Arbeiten von Ilkka Halso. Dazu geht es an den Fluss Kitka in Nordfinnland, der an einer Stelle eine markante und imposante Schleife zieht, die landesweit bekannt ist, etwa so wie bei uns der Rhein beim Felsen der Loreley.
Das Besondere dieser Stelle ist zudem, dass hier links und rechts des Ufers noch seltene Moose und Flechten wachsen, die es an anderen Orten in Finnland kaum bis nicht mehr gibt. Was wir nicht sehen: Hinter uns, ungefähr da, wo wir beim Betrachten eines wandfüllenden Fotos dieser Flussstelle stehen, ist ein Parkplatz. Für viele und große Reisebusse. Aus denen regelmäßig entsprechend viele Touristen aussteigen, die Richtung des Flusses gehen (um ein Foto zu machen, selbstverständlich) und die dabei über die seltenen Moose und Flechten latschen.
Kunsthalle St. Annen, St.-Annen-Straße 15; die Ausstellung endet am 26. April.
Halso fragt: Was nun tun? Er hat seine Flussansicht digital um eine mächtige, gläserne Halle erweitert, die sich über die Szenerie spannt. Sozusagen ein ‚Museum der Natur‘, damit die Natur wenigstens museal bewahrt werden kann. Tiina Itkonen wiederum reist seit Jahren immer wieder nach Grönland, begibt sich an Orte wie Siorapaluk, Qaanaaq oder Kuummiut. Dort fotografiert sie die Häuser der Bewohner, im immer gleichen Ausschnitt, so dass ihre Serien an die Serien der Düsseldorfer Becher-Schule erinnern. Zudem ist sie mit einem amerikanischen Projekt der Beobachtung der Klimaerwärmung auf Grönland verbandelt, in welchem ihre Arbeiten auch den Wandel des Klimas visuell begleiten: Immer seltener zeigen sich die von ihr dokumentierten Häuser eingeschneit.
Dazwischen und drumherum gibt es noch viele weitere Positionen zu begutachten, über vier Stockwerke erstreckt sich die Ausstellung, ein Dutzend KünstlerInnen sind vertreten, viel Gutes ist zu entdecken. Manchmal zeigt sich, dass auch ältere Arbeiten verblüffend aktuell werden können – ganz ohne ihr Zutun.
So wie die Schwarz-Weiß-Arbeiten von Jorma Puranen, einem der Gründer der Helsinki School. Er hat in den frühen 1990er-Jahren Glasplattenfotos von den Ureinwohnern Skandinaviens, den Samen, entdeckt. Und er hat sie entwickelt, hat die Porträtbilder vorzugsweise an die Orte zurückgebracht, aus denen die Samen seinerzeit vertrieben wurden. Sein Projekt „Imaginary Homecoming“ war damals eine Art symbolisch-visuelle Restitution, dem heute an vielen Orten in Finnland reale Rückgaben gefolgt sind und noch folgen werden.
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