75 Jahre Auschwitz: Tötung nach Strichliste
Am Holocaust-Gedenktag wird in Berlin auch der Euthanasie-Opfer gedacht. Der Bundesbeauftragte warnt vor aktueller Behindertenfeindlichkeit.
Dort, wo damals die Euthanasiezentrale, verdeckt als „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“, ihren Sitz hatte, befindet sich heute der Gedenkort für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde. Ihnen wurde am Montag mit einer Kranzniederlegung gedacht.
Europaweit wurden mehr als 300.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen ermordet, ungefähr 400.000 weitere zwangssterilisiert. Im Rahmen der sogenannten „T4“-Aktion plante die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ die systematische Tötung. Leitende Mitarbeitende mussten ihre nationalsozialistische Gesinnung nachweisen. Alle anderen Angestellten wurden lediglich zur Geheimhaltung verpflichtet.
Die Auswahl der Euthanasie-Opfer wurde von circa 40 ärztlichen Gutachtern durchgeführt. Aus 200.000 erfassten Patienten wurden 70.000 selektiert und mit Kohlenmonoxid erstickt. Für den Massenmord bauten die Nationalsozialisten fünf psychiatrische Einrichtungen und ein ehemaliges Gefängnis in Tötungszentren um.
Inklusion noch längst nicht selbstverständlich
Beim Gedenken an diese Verbrechen steht am Montag Carina Kühne am Rand des Mahnmals. „Es ist sehr wichtig, dass Menschen heute hier sind und der Opfer gedenken“, erklärt die Inklusionsaktivistin mit Downsyndrom. „Denn auch heute ist Inklusion noch längst nicht selbstverständlich. Es gibt noch immer viele Barrieren in den Köpfen.“
Kühne engagiert sich gegen pränatale Tests als Kassenleistung zur Feststellung von Trisomien: „Neun von zehn Föten mit Downsyndrom werden abgetrieben. Warum dürfen wir nicht auf die Welt kommen? Wir leben ja und sind glücklich!“
Auch Jürgen Dusel, Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen, gedenkt der Opfer. „Der bittere Befund auch 75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist: Leider sind viele immer noch nicht frei davon, vermeintliche Minderheiten ungleich zu behandeln oder abzuwerten.“
Dusel warnt vor Behindertenfeindlichkeit und Hassrede in den sozialen Medien: „Wir dürfen nicht den Fehler machen, bei Diskriminierungen oder auch Hassreden im Internet wegzuschauen, dies kleinzureden oder die Betroffenen zu vereinzeln.“
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Waffenlieferungen an Israel
Es geht nicht ohne und nicht mit
Wahlverhalten junger Menschen
Früher wählte die Jugend links
Krieg im Nahen Osten
Das Personal wächst nach
Wagenknechts Koalitionsspiele
Tritt Brandenburg jetzt aus der Nato aus?
Wirtschaft aber für junge Menschen
Das Problem mit den Boomer-Ökonomen
Ex-Chefinnen der Grünen Jugend
„Wir dachten, wir könnten zu gesellschaftlichem Druck beitragen“