piwik no script img

Überlebende über den Holocaust„Kindheit und Jugend verloren“

Die Hamburger Holocaust-Überlebenden Ivar und Dagmar Buterfas-Frankenthal sprechen über Hunger, Loyalität und Schuld.

Dagmar und Ivar Buterfas-Frankenthal: „Wir hatten ja immerhin überlebt, aber wie“ Foto: Miguel Ferraz
Friederike Gräff
Interview von Friederike Gräff

taz: Herr Buterfas-Frankenthal, wie sehr verfolgt Sie die Erinnerung an die NS-Zeit?

Ivar Buterfas-Frankenthal: Ich wache jede Nacht davon auf. Ein Hauptalbtraum ist: Ich wurde 1938 in der Schule am Rhiemsweg eingeschult. Als ich sechs Wochen da war, gab es eine große Versammlung auf dem Schulhof. Es waren ungefähr 500 Schüler und Schülerinnen angetreten, die größeren hatten schon ihre Hitlerjugend- und BDM-Uniformen an. Dann haben wir unter der Hitler-Fahne das Horst-Wessel-Lied gesungen, dann war alles stumm, der Schulleiter stand auf der Freitreppe – die gibt es heute noch. Er rief: „Buterfas, tritt’ hervor. Du weißt, warum du hervortreten musst? Dein Vater ist Jude, pack’ deine Sachen, verschwinde und lass dich nie wieder sehen!“ Die anderen Kinder guckten, dann ging es los: „Jude, Jude“. Sie haben mir mit einer Zigarette ein Loch ins Bein gebrannt. Ich wusste nicht mal, was ein Jude ist.

Ihr Vater war nicht religiös?

Nie im Leben. Und er war ja schon 1934 weg im Lager in Börgermohr. Und unsere Mutter hat uns nichts davon erzählt, dadurch konnten wir nichts weiterplappern.

Wann haben Sie angefangen, über Ihre Erinnerungen zu sprechen?

Es war schon nach Kriegsende klar: Ich will darüber reden. Wir hatten ja immerhin überlebt, aber wie.

Dagmar Buterfas-Frankenthal: Wir mussten erst einmal Geld verdienen. Wir hatten nichts zu essen und haben erst einmal die Firma aufgebaut.

Ivar Buterfas-Frankenthal: Ich will es mal chronologisch aufbauen. Ich war bis 1945 nicht wieder in einer Schule, ich hatte einen Horror, wieder mit einer Menge Kinder zusammen zu sein. Ich bin dann doch wieder gegangen, mit meiner anderthalb Jahre älteren Schwester, Felicitas, in Hamburg-Billstedt. Das war schrecklich.

Warum?

Eine Klasse bestand damals aus 60 Schülerinnen und Schülern und viele von deren Eltern waren belastet als Ortsgruppenführer, hohe Offiziere. Natürlich hatten sie alle nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun und jeder hatte eine oder zwei jüdische Familien versteckt. Sie hatten sich Persilscheine besorgt.

Und wie erging es Ihnen mit den MitschülerInnen?

Es sprach sich in Windeseile rum: Zwei jüdische Kinder, die überlebt haben, sind hier bei uns. Viele hatten Angst, dass wir uns aus Rache über sie oder ihre Eltern hermachen. Einige kamen auf mich zu und sagten: Pass’ mal auf, das, was wir mit den Juden gemacht haben sollen, das haben die Engländer schon viel früher im Burenkrieg gemacht, das hat mein Vater mir erzählt. Ich war froh, dass ich in der achten Klasse abgehen konnte. Die Not in der Familie war nach wie vor groß.

Wie hatten Sie den Nazis entkommen können?

Die letzten anderthalb Jahre haben wir in einem Kellerloch gelebt, in der Ruine eines Hauses mit heilem Keller. Eine Nachbarin, die meine Mutter von früher kannte, hat uns Decken und manchmal etwas zu essen gebracht. Mit meinem Bruder Rolf bin ich nachts raus, dann sind wir in die zerstörten Häuser gegangen, um nach etwas zum Essen zu suchen. Die anderen waren dafür nicht so geeignet.

Da mussten Sie eine Menge organisieren.

Wenn da ein Stück Brot lag, und wir wussten, unsere Mutter hatte noch nichts gehabt, sagten wir: „Da Mama, das ist für dich“, dann sagte sie: „Ich hatte schon was, teilt euch das mal.“ Diese Frau war einzigartig.

Ich habe mit Überraschung gelesen, dass ausgerechnet ein Gestapo-Mann Ihre Familie gewarnt hat.

Mein Vater hatte vor dem Krieg einen engen Freund, der bei der Gestapo war. Die Freundschaft hat sich gehalten, obwohl er ein strenger Nazi war. Er hat meine Mutter immer gewarnt, wenn eine neue Aktion geplant wurde. Für uns war es bis 1942 einigermaßen lebbar, in einem sogenannten Judenhaus, einer halb verfallenen Kate, obwohl wir keinen Luftschutzkeller benutzen durften. Mein Vater wurde immer wieder abgeholt, schließlich landete er im Lager Sachsenhausen und kam erst 1945 wieder.

Im Interview: Dagmar und Ivar Buterfas-Frankenthal

Ivar Buterfas-Frankenthal, 87, und Dagmar Buterfas-Frankenthal, 85, führten gemeinsam ein Bausanierungs-Unternehmen. Ivar Buterfas hat die Initiative „Rettet die Nikolaikirche“ gegründet und als Zeitzeuge über 1.500 Vorträge gehalten.

Sie stammen aus einer ungewöhnlichen Familie – Ihre Eltern waren Artisten. Waren Sie das auch noch mit neun Kindern?

Mein Vater stammte aus einer reichen Fabrikantenfamilie in Dresden, die meine Mutter als Christin nicht akzeptiert hatten – die waren auch verbohrt. Aber sie haben uns unterstützt. Bis 1931 haben meine Eltern als Step-Artisten gearbeitet.

Wie lange ging Ihr Leben im Versteck gut?

Der Gestapo-Mann hat zu meiner Mutter gesagt: Ihr sollt abgeholt werden, ihr müsst verschwinden. Dann fiel in unmittelbarer Nähe eine Luftmine, und mein Bruder Rolf wurde schwer verletzt. Als wir mit ihm zu Arzt gingen, sagte der: „Ich darf Sie nicht behandeln.“ Schluss.

Der Termin

Am Montag, dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Shoah, spricht Ivar Buterfas-Frankenthal um zehn Uhr in seiner früheren Schule im Rhiemsweg 6

Dagmar Buterfas-Frankenthal: Der Bruder ist mit 38 Jahren an Gehirnschlag gestorben.

Ivar Buterfas-Frankenthal: Der Blockwart hat im Luftschutzkeller vor uns die Tür zugemacht. Dann hat unsere Mutter uns genommen und gesagt: „Wir müssen eine längeren Spaziergang machen.“ 14 Tage später waren wir hinter Danzig, dort hat uns ein Gutsbesitzer versteckt. Eigentlich ging es uns ganz gut, bis wir eines Tages vom Beerensammeln kamen und da der Bescheid war.

Ein Bescheid wofür?

Ein Bescheid der Kommandantur, hinter jedem Namen der Kinder stand J für Jude, nur hinter dem meiner Mutter nicht, die war ja der christliche Teil. Da hat unsere Mutter gesagt: Da gehen wir nicht hin, das ist eine Falle. Sie hat uns geschnappt und ist mit uns zurück nach Hamburg gegangen. An einem Tag, als wir vom Organisieren zurückkamen, war da die Gestapo und wollte uns zur Schule am Bullenhuser Damm bringen.

Die ist berüchtigt als Außenlager, in dem kurz vor Kriegsende 20 jüdische Kinder ermordet wurden.

Sie wollten neun Kinder, es waren aber nur sieben da. „Sehen Sie, dass morgen alle da sind.“ Was hat unsere Mutter gemacht? Zwei Stunden später waren wir in einem anderen Kellerloch. Und am 8. Mai 1945 war ich der erste, der aus dem Keller lief und den britischen Panzern entgegen. Aber das schlimme Kapitel für uns begann noch mal richtig nach 1946.

Warum?

Als mein Vater aus Sachsenhausen zurückkam, war er fertig. Meine Mutter war es auch. Mein Vater hat sich eine andere Frau gesucht, wir waren wieder ohne Vater. Ich verlor meine Schule, meine Kindheit und meine Jugend.

Dagmar Buterfas-Frankenthal: Aber gefunden hast du mich.

Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht wie Ihr Mann?

Das Foto meines Vaters steht dort oben. Den haben sie 1938 in Buchenwald umgebracht. Erzähl’ du das mal.

Ivar Buterfas-Frankenthal: 1938 ist ihr Vater nach Amerika gegangen zu einem medizinischen Kongress. Was er nicht wusste: Seine Frau hat die Zeit genutzt und ließ sich scheiden. Der Vater war der jüdische Teil, sie der christliche. Wir haben uns gestern noch darüber unterhalten: Wie konnte das sein? Sie musste doch wissen, 1938, es gab die Pogrome. Der Vater kam zurück, wurde sofort verhaftet, kam nach Buchenwald als Arzt in die Krankenbaracke und war sechs Monate später tot. Als wir unsere diamantene Hochzeit hatten, wollte meine Frau ihren Namen Frankenthal annehmen. Da hab ich gesagt: Das mach’ ich auch.

War es für Sie nach 1945 klar, in Deutschland zu bleiben?

Ivar Buterfas-Frankenthal: Du oder ich?

Dagmar Buterfas-Frankenthal: Die zweitälteste Schwester meines Mannes ist mit ihrem jüdischen Verlobten nach Amerika ausgewandert. Die anderen sind alle hier geblieben, haben sich selbständig gemacht, sind dem Staat nicht zur Last gefallen.

Ivar Buter-Frankenthal: Aber warum sind wir geblieben? Der Alte hat sich scheiden lassen. Für alle meine Geschwister und mich gab es eine Patenschaft in Amerika, nur für unsere Mutter nicht. Und meinen Sie, wir verlassen unsere Mutter? Die alten Drecknazis sind wieder in die alten Positionen geschlüpft. Der Verbrecher, der uns 1942 die Staatsangehörigkeit genommen hat, war wieder dafür verantwortlich, dass wir sie wiederkriegen sollten. Uns wissen Sie, wann ich sie bekommen habe? 1964. Unsere Kinder sind noch als Staatenlose geboren. Und trotzdem: vergeben haben wir beiden längst. Aber vergessen…

Sie haben sich an mehreren Stellen gegen das Vergessen aufgebäumt: unter anderem beim ehemaligen KZ Sandbostel.

Der Kulturdezernent von Rotenburg-Wümme fragte mich bei einer Veranstaltung: Kennen Sie Sandbostel? Nein, kannte ich nicht. Er sagte: Das ist ein ehemaliges KZ und Gefangenen-Straflager, schrecklich. Könnten Sie sich das vielleicht angucken und uns ein paar Tipps geben, Sie haben doch Erfahrung über die Arbeit für St. Nikolai? Es ist das einzige Lager in Europa, das noch über 30 Baracken verfügt. Das hat mich doch interessiert. Vor allem hat mich interessiert, dass er sagte: Als das Lager Neuengamme geräumt wurde, mussten 10.000 KZ-Häftlinge auf den Todesmarsch von Bergen-Belsen nach Sandbostel, darunter 4.000 Juden. Das hat mich noch wacher gemacht, weil eigentlich entweder die Schule Bullenhuser Damm oder Neuengamme für uns gedacht waren.

Sie sind gefahren?

Ich bin eher hingefahren als ich eigentlich wollte. Man hat mich in Empfang genommen und gesagt: Hier sind über 60.000 Menschen ermordet worden, an Hunger, Typhus gestorben. Jetzt ist alles aufgeteilt, der Kreis hat sich davon befreit und einen Gewerbepark daraus gemacht. Bis vor kurzem war in zwei Baracken ein Puff. Da hinten ist ein Holzhändler, das Gelände hat man einfach aus dem Denkmalschutz rausgenommen. Und es gab einen Militariahändler.

Wie passend.

Man sagte mir: die Grenzen nach Osteuropa sind offen, die Menschen kommen aus aller Welt, die hier ihren Onkel, Bruder, Vater verloren haben. Wenn sie dorthinkamen, um Blumen niederzulegen, bekamen sie was mit dem Knüppel, die haben hier nichts zu suchen. Ich sage: Ich komme wieder.

Und dann?

Es gab eine Gruppe, alles gute Leute, die sich um das Lager gekümmert hatte, vergeblich. Ich bekam einen Brief von Christian Wulff, ob ich in Bremervörde eine Veranstaltung machen und dort auch über Sandbostel reden würde. Der Oberbürgermeister würde sich sehr freuen. Dann bekomme ich einen Anruf von meinem Freund aus der Sandbostel-Gruppe: „Tu' mir einen Gefallen, fahr nicht nach Bremervörde. Ich les dir die Titelseite der Bremervörder Zeitung vor: Ivar Buterfas wurde mit 5 zu 4 Stimmen zur Persona non grata erklärt. Er darf das Rathaus von Bremervörde nicht betreten“.

Das hat Sie vermutlich nicht beeindruckt.

Es gab eine Kirche vier Kilometer weiter, deren Pastor war mit im Förderkreis von Sandbostel. Der stellte mir sein Gemeindehaus zur Verfügung. Drei Tage später der erste Telefonanruf: „Hör zu, du Judensau. Wir haben gerade eine Kiste gebastelt, da haben wir ein Schwein, 85 Kilo, sechs Minuten gedauert. Wir warnen dich“. Noch ein paar, noch ein paar. Zwei Tage später klingelt es am Tor: Herr Buterfas, lassen Sie uns mal rein. Wir sind vom Verfassungsschutz. Wir müssen Sie eindringlich bitten, diese Veranstaltung nicht durchzuführen. Ich sage: ich lass micht nicht verbiegen, nicht von so einer Horde ehemaliger Nazis, das läuft nicht. Dann sind sie hier Streife gelaufen, haben Auflagen gemacht, Fenster mit Panzerglas zu versehen, solche Lichtquellen. Das ist wie Fort Knox hier.

Wie war die Veranstaltung?

Es ist riesig gelaufen, phantastisch. Dieses Lager ist heute nicht wiederzuerkennen, es ist ein Lernort geworden. Es ist gelaufen wie die Feuerwehr.

Sie sind auch gelaufen wie die Feuerwehr.

Sie können es als mein Lebenswerk betrachten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!