Mein Kriegsende 1945: „Er wollte bloß Wasser“

Zeitzeugen erinnern sich (Teil 13): Helga Thieme hatte die Bombenangriffe auf Dresden überlebt. Dann kam die Rote Armee ins Dorf Grünberg.

Helga Thieme Foto: privat

Helga Müller, geborene Thieme, Jahrgang 1928, heiratete, bekam zwei Kinder und lebte in den 1960er und 1970er Jahren in Moskau:

„Der erste russische Soldat, den ich erblickte, trug einen braungrauen Militärmantel und eine Maschinenpistole. Er stand vor dem Tor des Bauernhofs, in dem wir untergekommen waren. Das Tor hatte der Bauer abgeschlossen. Der Rotarmist schoss erst das Tor auf und dann erschoss er den Hund. Der Hund, das war so ein Mistvieh, halb Wolf, der nach jedem schnappte. Er ging auf den Soldaten los. Ich höre noch den Knall des Schusses. Mein erster Gedanke: „Gottseidank, endlich ist das Vieh tot.“ Dann dachte ich: „Und jetzt erschießt er uns alle.“

Meine, Eltern, meine Schwester und ich, wir waren am 13. Februar in Dresden ausgebombt und in Grünberg, einem Dorf bei Dresden, untergekommen. Mein Vater hat die Nazis verachtet. Wir waren christlich erzogen und Mitglieder der Bekennenden Kirche. Das hat vielleicht dazu beigetragen, dass wir den Nazis nicht so auf den Leim gegangen sind. Mein Onkel hörte jeden Abend unter der Decke die deutschen Nachrichten der BBC. Wir wussten also, dass die Deutschen sich zurückzogen.

In Grünberg hörten wir die Front näher rücken und sahen den Widerschein der Detonationen. Wir hatten fürchterliche Angst vor den Russen, wir hatten gehört, sie würden alle erschießen und die jungen Mädchen vergewaltigen. Ich war zwei Jahre nach der Machtergreifung eingeschult worden. Zehn Jahre hatte ich nur diese fürchterliche Propaganda gehört. Der Russe, das war das Böse.

Es muss ungefähr am 6. Mai gewesen sein, als die Rote Armee nach Grünberg kam. Als die Panzer durchs Dorf rollten, klirrten die Scheiben und der Boden vibrierte. Ich stand hinter dem Küchenfenster, als der Rotarmist durchs Tor kam und den Hund erschoss. Danach wurden wir alle in den Hof getrieben, der Bauer hatte ein weißes Handtuch um einen Besenstiel gebunden. Wir standen mit erhobenen Händen vor dem Soldaten und hatten solche Angst, dass wir uns nass machten. Der Soldat fragte etwas. Wie sich herausstellte, wollte er bloß Wasser. Dann ging er wieder. Die Rote Armee aber blieb.

Hinter den Bauernhäusern türmten sich Reisighaufen. Darin hatten wir uns Höhlen gebaut. Als der Soldat weg war, haben wir Mädchen uns dann 14 Tage dort versteckt. Von der Kapitulation am 8. Mai hörte ich vermutlich aus dem Radio. Aber der Krieg war damit für uns nicht vorbei. Die Bedrohung von oben, die war weg. Aber die Angst am Boden blieb: Die Angst vor der Rache der Besatzer, davor erschossen oder vergewaltigt zu werden. Mit der Befreiung gingen Not, Angst und der Kampf ums Überleben für uns erst los: der Kampf gegen den ständigen Hunger und die Kälte in diesem fürchterlichen Winter 1946.“

Aufgezeichnet von Anna Lehmann

Zuletzt erschienen:

(12) Valerija Skrinjar-Tvrz, Partisanin

(11) Stanisław Zalewski, KZ-Überlebender

(10) Guy Stern, US-Ermittler

(9) Eva Fahidi, Auschwitz-Überlebende

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