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Porträt über KinderbuchautorinVerse als Seelenfutter

Bat Sheva Dagan hat Auschwitz überlebt. Sie schreibt Kinderbücher über den Holocaust. Happy Ends sollen den Glauben an die Menschheit bewahren.

Bat Sheva Dagan, 95, in ihrer Wohnung in Tel Aviv, Januar 2020 Foto: Mareike Lauken

Als Bat Sheva Dagan in Auschwitz Geburtstag hatte, schenkte ihre Freundin und Mitinhaftierte Zosia Szpigielman ihr ein Gedicht. Damals hieß Dagan noch Izabella Rubinstein, und so hieß das Gedicht „Kleine Iza“.

„Es ist das schönste Geschenk, das mir jemals gemacht wurde“, sagt die mittlerweile 95-jährige Bat Sheva Dagan: „Es ist, als hätte Zosia gesagt: ‚Du musst schreiben, denn ich werde es nicht mehr können.‘“ Das letzte Mal sah Dagan ihre Freundin, als Zosia ins Krematorium gefahren wurde. Nach dem Krieg nahm Dagan den Auftrag an: Sie begann zu schreiben: Gedichte und Kinderbücher über den Holocaust.

Begierig danach zu denken und zu lernen war Dagan schon als kleines Mädchen. Als die Nazis in Polen einmarschierten, war einer ihrer ersten Widerstandsakte gegen die Nazis, heimlich Schulunterricht zu nehmen. Dagan war 17 Jahre alt und lebte mit ihren zwei Schwestern und ihren Eltern im polnischen Radomer Ghetto. „Wir lebten mit drei Familien in einem kleinen Zimmer und die Schule war verboten. Ich vermisste das Lernen so sehr.“

Ein Lehrer von der Jugendorganisation Hashomer Hatzair wurde heimlich aus dem Warschauer Ghetto nach Radom ins Ghetto geschickt und unterrichtete die Schüler*innen in Geografie, Mathematik, polnischer Literatur. Sie saßen in dem kleinen Zimmer, das ihnen zur Verfügung stand: „Sahen wir deutsche Soldaten vor dem Fenster, versteckten wir die Bücher und begannen zu singen.“

Bücher von Bat Sheva Dagan

Batsheva Dagan: „Gesegnet sei die Phantasie – verflucht sei sie! Erinnerungen an ‚Dort‘“, übersetzt von Avni Yona, illustriert von Yaakov Gutermann, Metropol-Verlag, Berlin 2018, 120 S., 16 Euro

Batsheva Dagan: Chika, die Hündin im Ghetto. Illustriert von Avi Katz. Übersetzt von NurittBareli. Publishers Werbeagentur Medien & Verlag, Frankfurt (Oder) 2008, 32 Seiten, 7,50 Euro

Über den Lehrer aus dem Warschauer Ghetto kam sie zu der sozialistisch-zionistischen Untergrundorganisation Hashomer Hatzair. Ihre Aufgabe wurde es, die Untergrundzeitung Gegen den Strom aus dem Warschauer Ghetto nach Radom zu schmuggeln. Sie wurde von dem Widerstandskämpfer Mordechaj Anilewicz herausgegeben:„Es war eine Zeitung, die uns ermutigte zu leben, zu kämpfen und nicht aufzugeben.“

„Ich habe überlebt, weil ich nach seelischen Inhalten gesucht habe“, sagt Bat Sheva Dagan und macht eine lange Pause. Dagan spricht langsam und auf den Punkt. Man merkt, dass sie oft als Zeitzeugin über ihre Erfahrungen in der Schoah spricht, in Israel, in Polen, in Deutschland: „Ich habe in Auschwitz Gedichte auswendig gelernt, ich habe dort Französisch gelernt, ohne Buch, ohne Bleistift, ohne Papier. Das war mein geistiger Widerstand. Dass ich das machte, was ich mir selbst aussuchte, trotz der Qualen.“

Als im August 1942 das Radomer Ghetto liquidiert wurde, wurden ihre Eltern und ihre Schwester nach Treblinka deportiert. Kurz darauf floh Dagan aus dem Ghetto in Radom. Sie reiste mit falschen Papieren nach Deutschland und arbeitete dort als Hausmädchen.

Wenige Monate später wurde sie verhaftet und nach Auschwitz deportiert. „Ich wusste nichts über Auschwitz, nichts von den Gaskammern, nichts vom Krematorium. Ich wusste nur: Man kommt hinein, aber niemals heraus.“ Doch als sie dort ankam und ihren Arbeitseinsatz gegenüber dem Krematorium begann, wurde ihr klar, was mit ihren Eltern und ihrer Schwester geschehen war.

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, schrieb Theodor W. Adorno 1949. Knapp zwanzig Jahre später relativierte er den Satz, doch zu dem Zeitpunkt, vier Jahre nach Kriegsende, bedachte er wohl nicht, dass selbst in der Hölle Auschwitz Gedichte geschrieben wurden.

Dagan lernte sie auswendig. Sie rezitierte sie zusammen mit den anderen Mädchen, mit denen sie im sogenannten Kanada Kommando arbeitete. Sie waren dafür verantwortlich, aus den Koffern und Kleidungsstücken der in der Gaskammer Ermordeten Wertgegenstände auszusortieren. „Es gab ein Gedicht von Kristina Jewulska. Es war ein Rachegedicht, und es war unser Gebet.“ Sie brauchten es, um Kräfte zu sammeln, sagt Dagan: „Wir wollten Rache. Erschießen, vergiften, all das wäre nichts gewesen im Vergleich zu den Qualen, die wir erleben mussten. Sie sollten dieselbe Via Dolorosa durchmachen, die wir durchleben mussten.“

Dagan überlebte die Schoah. Befreit wurde sie nach sechs Gefängnisaufenthalten, drei Konzentrationslagern und zwei Todesmärschen in Malchow in Mecklenburg. Als sie im September 1945 nach Palästina auswanderte, benannte sie sich um. Aus Izabella Rubinstein wurde Bat Sheva Dagan. Dort begann Dagan zu schreiben. Sie schrieb, wo auch immer es über sie kam. Mit Zettel und Stift im Bus, im Auto.

2005 erschienen Dagans Gedichte gemeinsam mit den in Auschwitz auswendig gelernten Gedichten in deutscher Übersetzung: „Gesegnet sei die Phantasie – verflucht sei sie! Erinnerungen von ‚Dort‘“, heißt der Band.

Es geht um das Leben im Vernichtungslager Auschwitz, um Dinge, über die nur selten gesprochen wird: die erniedrigenden physischen Bedingungen, den weiblichen Körper in der Hölle Auschwitz, um die Verrichtung der Notdurft. Und immer wieder geht es auch darum: um die Flucht vor der Realität in Gedanken, in die Lyrik.

Titelbild des Bandes „Wenn Verse sprechen könnten“ von Avi Katz Foto: Avi Katz/Metropol Verlag

Es war bitter nötig. Im Kanada-Kommando musste sie die Kleidung sortieren, nachdem ihre Heimatstadt Lodz liquidiert worden war. Auf dem Kleiderstapel fand sie Bilder ihrer Lehrer. „Es war so schmerzhaft zu verstehen: In dem Moment, in dem ich ihr Foto finde, leben sie nicht mehr.“

Die Nummer auf dem Arm

Auch über ihre letzte Nacht im Kanada-Kommando am 18. Januar 1945 schrieb sie ein Gedicht: „Verbrennt alle Koffer, verbrennt jeden Namen, jede Spur.“ Als die Russen näher kamen, gab die Lageraufsicht den Befehl, die Koffer zu verbrennen, um alle Spuren zu beseitigen.

Doch einige Koffer konnten nicht mehr verbrannt werden, sie blieben dort, mit den Namen der Besitzer*innen, die in den Gaskammern ermordet wurden. Heute stehen die Koffer als Mahnung im Museum Auschwitz-Birkenau.

Ich wollte die Kinder nicht ihres Glaubens an die Menschheit berauben

Bat Sheva Dagan

In Palästina setzte sie ihr Leben mit ihrem Lernwillen fort: Während andere Einwanderer die hebräische Sprache bis an ihr Lebensende nicht ganz beherrschten, war sie innerhalb von sechs Monaten fließend. Als sie als Erzieherin in einem Kindergarten arbeitete, fragten die Kinder nach der Nummer auf ihrem Arm. Sie fragte sich, wie sie die Frage beantworten könnte.

Zu Beginn erklärte sie, dass es vor langer Zeit einen Krieg gegeben hatte, wo ein sehr böser Mann lebte, der alle Menschen hasste und viele Menschen, Juden, Roma und Sinti und Polen, sogar kleine Kinder in Lager steckte. Doch es dauerte Jahre, bis Dagan, die mittlerweile Psychologie studiert hatte, eine Antwort auf die Frage fand, wie man Kindern den Holocaust nahebringen konnte. „Irgendwann verstand ich: Was auch immer ich schreibe, es würde kritisiert werden. Und das ist gut so.“

In England, als sie als Beraterin für die Progressive Jewish Organization arbeitete, schrieb sie ihr erstes Buch: „What happened during the Shoah. A story in rhymes for children who want to know.“

Chika, die Hündin im Ghetto

„Ich schrieb mit der Idee, dass Kinderbücher ein Happy End brauchen, weil ich den Kindern nicht ihres Glaubens an die Menschheit berauben wollte.“ So entstand die Geschichte vom jüdischen Jungen Mikash und seiner Hündin Chika, die sich bei Kriegsende wiederfinden: „Chika, die Hündin im Ghetto.“ 2016 erschien das Kinderbuch von Dagan als Trickfilm in deutscher Fassung.

Mit der gleichen Philosophie und einem Happy End schrieb sie ein Kinderbuch, das auf der Geschichte ihrer Cousine Alunia basiert: „Wenn Sterne sprechen könnten“. Im Ghetto wurde sie von ihren zwei Kindern getrennt. Kurz bevor sie ins Konzentrationslager gebracht wurde, gab sie ihren Kindern ein Versprechen: Immer wenn die Sterne am Himmel stehen, wird sie bei ihnen sein. Die Kinder zogen von einem Lager zum nächsten, bis sie eines Tages nach Auschwitz kamen und sie wieder vereint waren. Alle drei überlebten den Krieg.

Die Eltern von Bat Sheva Dagan sind in der Schoah ermordet worden. Genauso ihre Schwestern. Ihre Brüder hat sie in Palästina wiedergefunden.

Das Rachegedicht, das in Auschwitz ihr Gebet war, kennt sie noch heute auswendig. Doch die Zeit hat Dagans Zugang zum Leben verändert: „Wenn ich mich an den Täter*innen räche und ihnen dasselbe antue, wie das, was sie uns angetan haben, bin ich nicht besser als sie. Deshalb fahre ich nach Deutschland. Ich treffe die Jugend und ich erzähle und ich warne. Denn die Zukunft liegt in ihren Händen.“

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