Anhaltende Proteste in Indien: Modi-Regierung bleibt stur
Indiens neues Staatsbürgerschaftsgesetz spaltet die Gesellschaft, bringt zugleich aber auch unterschiedliche Religionsgruppen zusammen.
MUMBAI taz | Selbst in der Nacht sitzen Hunderte mehrheitlich muslimische Frauen auf den Straßen von Shaheen Bagh in Indiens Hauptstadt Delhi. Über ihren Köpfen hängen Zeltplanen, auf dem Schoß liegen wärmende Decken. In Indiens Norden ist der Winter angekommen, doch das hält die Frauen nicht vom Protest ab. Seit zwei Wochen streiken sie und wollen ausharren, bis die Regierung die umstrittene Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes zurücknimmt.
Inzwischen werden die Frauen von Ärzt*innen und freiwilligen Helfer*innen betreut. Derzeit vergeht in Indien kaum ein Tag, an dem kein neuer Protest gegen das neue Gesetz stattfindet. So kam es auch am Sonntag wieder in zahlreichen Städten zu bis Redaktionsschluss friedlichen Versammlungen gegen die Regierung von Ministerpräsident Narendra Modi.
„Die Modi-Regierung hat in ihrer zweiten Amtszeit mit der Umsetzung der RSS-Agenda begonnen“, sagt der Friedensaktivist Jatin Desai. Die hinduistische Kaderorganisation RSS (Nationale Freiwilligenorganisation) ist das ideologische Rückgrat der regierenden hindunationalistischen Volkspartei (BJP).
Seit der im Mai begonnenen zweiten Amtszeit Modis fährt seine Regierung einen Kurs, der Hindus bevorzugt und Muslime marginalisiert. Dazu gehörten laut Desai das Staatsbürgerschaftsgesetz (CAA), die Reform des muslimischen Scheidungsrechts (Triple Talaq) sowie der Autonomieentzug des von Muslimen dominierten indischen Teils von Kaschmir.
Hindu-Mehrheit versus religiöse Minderheiten
Desai fürchtet, dass diese Entwicklung Indien langfristig schadet. Die Regierung wolle das Land weiter in Richtung Hindutva lenken, sagt er. Damit gemeint ist ein hinduistisch geprägter Nationalismus, den Desai als Gegenentwurf zur säkularen und integrativen Nation betrachtet. Was manchen Wählern aus der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit zusagt, bringt jetzt andere, vor allem aus den Minderheiten, zusammen auf die Straße.
Letzteres sieht der muslimische Aktivist Feroze Mithiborwala, der den bisher größten Protest in Mumbai organisierte, jetzt als Chance. Es seien revolutionäre Zeiten, sagt er. „Statt lediglich zu spalten, haben die Proteste Menschen zusammengebracht. Hindus und andere Religionsgruppen setzen sich für Muslime ein“, sagt er und begrüßt den „zivilen Ungehorsam“.
Die Kritik an der Regierung wächst. So betont Mumbais Erzbischof Oswald Gracias, Religion solle niemals das Kriterium für Staatsangehörigkeit sein. Er warnt zugleich vor der Polarisierung aufgrund der Religionszugehörigkeit.
Die Regierung lässt Gegenproteste organisieren
Doch die Regierung bleibt ihrer Linie treu und lässt Gegenproteste organisieren. Der BJP-Minister für Minderheitsfragen und Muslime, Mukhtar Abbas Naqvi, behauptet, indische Muslime hätten nichts zu befürchten und die Protestierenden verbreiteten Lügen.
Der Aktivist Feroze Mithiborwala sieht in den Protesten auch eine Chance
Desai und Mithiborwala setzen auf die religionsübergreifende Zivilgesellschaft hinter den Protesten. Desai beklagt, wie überraschend die Gesetzesreform kam, auch wenn Modi hier einem Wahlversprechen folgte. „Sogar ihre Verbündeten sind nicht glücklich darüber.“
So kommt Widerstand auch aus dem bevölkerungsreichen Bihar. Auch in Assam, wo man die BJP an die Macht wählte und die Proteste begannen, distanzieren sich manche vom Einbürgerungsgesetz und Bürgerregistern.
Die Proteste lassen auch die Touristenzahlen sinken. In Goa, Assam und am berühmten Grabmal Tadsch Mahal in Uttar Pradesh gehen Besucherzahlen zurück. Erst am 22. Januar will der oberste Gerichtshof über die Rechtmäßigkeit der Gesetzesänderungen entscheiden.
Leser*innenkommentare
Dietrich Schneider
Zur Korrektur des Bildes vom RSS, von dem in fast allen deutschen Medien undifferenziert und negativ berichtet wird, ist dieser Artikel nützlich (hier kommt der Chief persönlich zu Wort): www.newindianexpre...agwat-2080984.html
peppolata
@Dietrich Schneider Dieser Bericht sagt leider gar nichts aus über die Funktionsweise des RSS. Er ist und bleibt eine paramilitärische, faschistoide Organisation, in der Unterwerfung und Gehorsam die entscheidenden Ziele sind (entsprechend der alten Kastenordnung). Und ab und zu gibt es auch Moslems und Christen, die das mögen.
Dietrich Schneider
Einige Anmerkungen: Die Motivation der Proteste in Assam und der vorwiegend studentischen Proteste in den großen Städten sind grundverschieden. In Assam geht es um Furcht vor Ueberfremdung durch Einwanderung, während die Studierenden Muslime benachteiligt sehen.
Ein ganz anderes Thema ist die Einführung des Uniform Civil Code, eines einheitlichen Gesetzbuches fuer ganz Indien. Bisher konnten die einzelnen Religionsgemeinschaften ihre eigenen Regeln anwenden. Das triple talaq ist eine Form des islamischen Scheidungsrechts, die so frauenverachtend- und diskriminierend ist, dass sie nicht einmal mehr in islamischen Ländern angewandt wird. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die im Text erwähnten Frauen für dieses "Recht" demonstrieren und noch weniger, dass die Autorin dieses Beitrages die Abschaffung dieses Reliktes kritisiert, das für jeden Rechtsstaat eine Schande darstellt. Im Übrigen gibt es zu den genannten Massnahmen der Regierung grosse Zustimmung, auch unter den Muslimen. Die Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen sind im Blick auf die Bevölkerungszahl sehr gering.
peppolata
Die Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz sind gigantisch und erfreulich. Die "Einverleibung" Jammu und Kashmirs sehr traurig. Die Abschaffung der muslimischen "Scheidung" längst fällig: Ein Ehemann ruft seine Frau mal kurz auf dem Handy an und sagt dreimal TALAAQ. Dann muß sie ihren Krempel packen und schauen, wo sie bleibt.
Für den muslimischen Teil der Bevölkerung gibt es immer noch (sagen wir mal frauenunfreundliche) Ausnahmen (nämlich die Scharia) in der Rechtsauffassung der ansonsten säkularen und fortschrittlichen Verfassung Indiens.
Pommes_Fritz
Diese „Reform“ ist an vielen Stellen problematisch. Aber Triple Talac (Instant Scheidungsrecht des Ehemanns) zu reformieren soll Muslime marginalisieren?