Aus der Favela ins Parlament: Das andere, das linke Brasilien
Seit einem Jahr ist der Rechte Jair Bolsonaro Brasiliens Präsident. Der Parlamentarier David Miranda ist sein Gegenentwurf. Dafür braucht er Mut.
A ls David Miranda auf der Pride-Parade von São Paulo, der größten der Welt, oben auf einem Wagen steht, wirkt er endlich wieder entspannt. Die Regenbogenfahne auf der Wange ist verwischt, der Bart voll Glitzer vom vielen Gedrücktwerden, er tanzt, er lacht, er hüpft. Drei der vier Leibwächter, die den ganzen Tag an ihm klebten und nervös die Menge scannten, sind gar nicht erst mit auf den Wagen gestiegen.
Wie viele Luftküsse braucht ein Mensch, um eine Morddrohung zu vergessen? Wie viele zu Herzchen geformte Hände, um nicht mehr an die homophoben Beschimpfungen zu denken? Wie viele Umarmungen, um zu verdrängen, dass der Staatspräsident höchstpersönlich Verschwörungstheorien über einen verbreitet?
Der Präsident von Brasilien heißt Jair Bolsonaro und ist seit einem Jahr im Amt. Ein Mann, der die Militärdiktatur verherrlicht und vor der Wahl „diesen roten Kriminellen“ gedroht hat, sie würden „entweder ins Ausland gehen oder in den Knast“. Der gesagt hat, die Quilombolas, die Nachfahren geflüchteter und freigelassener Sklaven, „taugen nicht mal mehr zur Fortpflanzung“. Der Homosexualität mit Pädophilie in Verbindung bringt und Eltern rät, ihren Söhnen das Schwulsein mit einer Tracht Prügel auszutreiben. „Mir wäre es lieber, dass einer meiner Söhne bei einem Unfall stirbt, als dass er hier mit einem Schnurrbärtigen auftaucht“, hat er einmal gesagt.
Nach seinem Amtsantritt hat Bolsonaro die Waffengesetze gelockert, das Bildungsbudget gekürzt – außer für Militärschulen – und die staatliche Arbeitsgruppe zur Folter-Bekämpfung aufgelöst. Die Polizeigewalt in den Favelas von Rio de Janeiro, wo seit Anfang 2019 ein ehemals mit Bolsonaro verbündeter Gouverneur regiert, ist so massiv wie lange nicht mehr.
Aber es gibt nicht nur das ultrakonservative Brasilien, das den rechtsextremen Bolsonaro bejubelt. Es gibt auch ein anderes, ein linkes, ein progressives Brasilien. Manche Progressive haben nach Bolsonaros Wahlsieg resigniert – andere aber wurden erst recht aufgerüttelt, sie sind laut und politisiert und entschlossen, gegen den Rechtsruck anzukämpfen.
Eine wichtige Figur ist der wohl unwahrscheinlichste Abgeordnete des brasilianischen Parlaments: David Miranda. Miranda, 34, ist einer von zwei offen Homo- oder Bisexuellen unter 513 Abgeordneten in einem Land, in dem es im vergangenen Jahr pro Tag fast einen homo- oder transphoben Mord gab. Ein schwarzer Abgeordneter in einem Land, in dem Schwarze 55 Prozent der Bevölkerung, aber nur ein Viertel der Parlamentarier stellen. Und ein aus einem Armenviertel kommender Abgeordneter in einem Land, in dem Politiker üblicherweise aus Politikerclans stammen.
Der Nationalkongress in Brasília, in einer ab den 50er-Jahren mitten ins brasilianische Hochland geklotzten Planstadt, sieht von außen futuristisch aus, aber in den Gängen von Nebengebäude III des Parlaments reihen sich prunklose kleine Abgeordnetenbüros aneinander, Linoleumböden, Glasfronten mit Lamellenvorhängen. Viele Abgeordnete haben die Fronten ihrer Büros beklebt: mit Brasilienfahnen, mit Slogans zur Unterstützung des Ex-Präsidenten Lula da Silva, mit Fotos von sich selbst oder Landschaftsbildern ihrer Regionen.
Die ersten Wochen hier seien hart gewesen, erzählt Miranda Ende Mai mit heiserer Stimme in seinem kahlen Büro im ersten Stock. Inzwischen aber fühle er sich wohl, er arbeite gut mit den Kollegen der anderen Parteien zusammen. Er ist stolz darauf, dass er mit fast jedem reden könne, auch mit den Söhnen von Präsident Bolsonaro, auch mit ultrakonservativen evangelikalen Abgeordneten, mit Menschen also, die alles verachten, wofür Miranda steht.
Routiniert bewegt sich Miranda durch das Gewusel im Parlament, schüttelt Hände, klopft Schultern, verteilt Küsschen, gibt hier eine Unterschrift für eine Gesetzesänderung und verweigert dort eine andere, beantwortet im Gehen eine Meinungsumfrage und gibt dem Fragenden gleich noch Ratschläge, wie er die Umfrage verändern sollte. Miranda ist ein großer, athletischer Mann, der weiß, dass er gut aussieht – im Karneval, schon als Abgeordneter, postet er ein Video auf Instagram, in dem er mit nacktem Oberkörper und kreisenden Hüften unter der Gartendusche tanzt. David Miranda hat ein Selbstbewusstsein, das manchmal an Arroganz grenzt, aber das verwundert nicht, wenn man seine Lebensgeschichte kennt.
Dass er jetzt hier ist, sich an das Rednerpult im Plenarsaal stellen und die Regierung korrupt nennen kann; dass er wie nebenbei erzählen kann, wie gut er mit der verstorbenen Sambalegende Beth Carvalho befreundet war und dass er „ständig bei Caetano zu Hause“ sei, einem der wichtigsten brasilianischen Musiker; dass das Time Magazine ihn neben Greta Thunberg zu einem der „10 Next Generation Leaders of 2019“ ernannt hat – das alles ist das vorläufige Ende einer märchenhaft anmutenden Aufstiegsgeschichte.
Miranda wird im Jacarezinho geboren, einer Favela im Norden Rio de Janeiros, 18 Kilometer entfernt von Touristenhotspots wie der Copacabana, dem Zuckerhut oder der Christusstatue. Seinen Vater lernt er nie kennen, seine Mutter stirbt, als er fünf Jahre alt ist, er wächst mit mehreren Halb- und Stiefgeschwistern bei seiner Tante Eliane auf, die er heute seine Mutter nennt. Sie arbeitet als Putzfrau.
Er habe Glück gehabt, erzählt er, dass seine Tante ihm eine gute Familienstruktur geboten, dass sich immer jemand um ihn gekümmert, es immer etwas zu essen gegeben habe, dass er in die Schule habe gehen können. Oft habe er vor den Schießereien der Drogenbanden davonlaufen müssen oder vor den Racheaktionen der Polizei; als er das erste Mal einen Toten auf der Straße liegen sah, war er acht Jahre alt, erzählt er. Manche seiner Brüder habe er seit der Kindheit nicht mehr gesehen, von einem weiß er nur, dass er auf der Straße gelandet ist. Zugleich, betont Miranda, habe er im Jacarezinho auf der Straße Fußball spielen können und alle Nachbarn gekannt.
Mit neun Jahren verteilt David Miranda Flyer für einen Zahnarzt, arbeitet dann als Verkäufer in einer Videothek, wird gefeuert, nachdem er ein Videospiel geklaut hat. Mit 13 haut er nach einem Streit mit seiner Tante von zu Hause ab, schlägt sich zu Fuß zu einer befreundeten Familie durch, schläft unterwegs ein oder zwei Nächte auf der Straße, wühlt im Müll von McDonald’s nach Essen und bettelt, um Batterien für seinen Gameboy zu kaufen. Er erzählt das nicht als schlimme Episode, sondern als Abenteuer. Was würde der zwölfjährige David sagen, wenn er den erwachsenen David heute hier im Parlament sähe? „Nossa, ich glaube, er wäre sehr stolz auf mich.“ Und überrascht? „Nein“, David Miranda lacht, „ich weiß es nicht, wahrscheinlich schon. Es war ein langer Weg hierher.“
Lange, sagt Miranda, habe er an die Erzählung geglaubt, dass jeder es nach oben schaffen könne. „Leute wie ich werden benutzt, man sagt: Schau doch, David hat es geschafft, also kannst du das auch. Aber ich bin eine Anomalie, etwas außerhalb des Systems, außerhalb der Kurve.“ Brasilien ist eines der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit weltweit, bei der Einkommensverteilung schneidet es noch schlechter ab als die USA. Im Kapitalismus gewännen die, die oben sind, immer weiter, sagt Miranda, und die unten, auch die Mozarts, Picassos und Roger Federers der Favelas, hätten kaum eine Chance, „weil sie nicht in die Musikschule oder zum Sport gehen können. Oder einfach getötet werden“.
Im Februar 2005 geschieht etwas, das mehr nach schlechter Hollywoodromanze klingt als nach dem echten Leben. Miranda, damals 19, spielt mit ein paar Freunden Ball am Strand von Ipanema und wirft den Caipirinha eines Touristen aus den USA um. Er entschuldigt sich, die beiden kommen ins Gespräch, eine Woche später ziehen sie zusammen. Heute sind sie verheiratet und leben mit ihren adoptierten Söhnen – zwei Brüdern aus einem Waisenhaus im armen Nordosten des Landes – und 25 geretteten Straßenhunden in einem Haus mit Garten in Rio.
Der Mann mit dem Caipirinha heißt Glenn Greenwald, ist 18 Jahre älter als Miranda und Anwalt in New York. Er zieht damals nach Rio, beginnt zu bloggen, macht sich bald einen Namen als Journalist. Miranda organisiert seine Termine, kümmert sich um Verträge und Rechnungen und beginnt mit 26 ein Marketingstudium an einer Privatuniversität, um Greenwalds Karriere professioneller managen zu können.
Dann, im Jahr 2013, übergibt der Whistleblower Edward Snowden Greenwald Dokumente, die zeigen, wie der US-Geheimdienst NSA in bisher ungekanntem Ausmaß die weltweite digitale Kommunikation überwacht. Mit seinen Veröffentlichungen wird Greenwald weltberühmt. Auch David Miranda landet international in den Schlagzeilen: Als er mit einer verschlüsselten Festplatte im Gepäck von Berlin über London nach Rio de Janeiro reisen will, wird er am Flughafen Heathrow neun Stunden lang von der britischen Polizei festgehalten und verhört.
Dass die Welt ihn damals als einen naiven jungen Kerl wahrnimmt, der vom berühmten Journalisten als Kurier eingespannt worden sei, hat ihn offenbar nachhaltig gekränkt. Wenn er heute von dieser Zeit spricht, verwendet er konsequent die Wirform: „Als wir die Snowden-Dokumente veröffentlicht haben …“
Miranda startet eine Kampagne, er will, dass Brasilien Snowden Asyl gewährt. Und er beginnt sich für die brasilianische Politik zu interessieren. Damals wachsen in Brasilien Demonstrationen gegen eine Erhöhung der U-Bahn-Ticketpreise zu Massenprotesten an. „2013 war ein Bruch“, sagt David Miranda. „Ich sah, wie die brasilianische Gesellschaft kollabiert, ich sah die steigende Gewalt und die Menschen, die keine Arbeit und keine Gesundheitsversorgung hatten. Ich hatte das Gefühl, ich muss etwas tun.“ Er beginnt, sich politisch zu engagieren, gründet gemeinsam mit der Jugendorganisation Juntos („Zusammen“) ein Jugendzentrum in Rio, tritt der kleinen linken Partei PSOL (Partei Sozialismus und Freiheit) bei.
2016 wird Miranda in den Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt. Dort setzt er unter anderem durch, dass trans Menschen in der Kommunikation mit offiziellen Stellen ihren gewählten Namen verwenden dürfen, und schreibt an einem Gesetz mit, wonach die Stadt die Gehälter und Pensionen ihrer Angestellten bezahlen muss, bevor der Bürgermeister seinen Lohn erhält.
In dieser Zeit beginnt Miranda, bis dahin vor allem LGBT-Aktivist, sich auch stärker mit seiner Herkunft und Hautfarbe zu identifizieren, er lässt seine Haare nun natürlich wachsen, statt sie wie bisher zu glätten und zu gelen. Und Miranda freundet sich mit einer Parteikollegin an, ebenfalls Schwarz, ebenfalls aus der Favela. Die zwei sind die ersten offen homosexuellen Stadträte Rios. Tagsüber, so erzählt Miranda, sitzen sie im Plenarsaal nebeneinander, am Wochenende machen sie zusammen Party, sie stellen einander ihre Ehepartner vor.
Am 14. März 2018 fährt Marielle Franco abends von einer Veranstaltung nach Hause, als ein fremdes Auto sich ihrem nähert und 13 Schüsse fallen. Franco und ihr Fahrer sind sofort tot. Beim Begräbnis am nächsten Tag trägt David Miranda Francos Sarg. Francos Gesicht prangt heute in Brasilien auf T-Shirts und Hausmauern, dazu Slogans: „Marielle lebt“, „Wer hat befohlen, Marielle zu töten?“, „Kämpf wie Marielle“. Sie ist zum Symbol geworden für den linken Widerstand, für den Kampfgeist der Minderheiten und der Nichtprivilegierten – aber auch für die Gefahr, in die sich begibt, wer sich für Menschenrechte einsetzt und gegen die Gewalt, die von Drogenbanden, Milizen und Militärpolizei in die Favelas getragen wird.
Die mutmaßlichen Mörder, zwei Ex-Polizisten, haben indirekte Verbindungen zur Familie Bolsonaro, einer von ihnen lebte in derselben Einfamilienhaussiedlung wie der heutige Präsident. Der 14. jedes Monats sei schwer für ihn, erzählt David Miranda in seinem Büro in Brasília, an dessen Tür zwei Straßenschilder mit der Aufschrift „Marielle-Franco-Straße“ hängen. Es sei schön zu sehen, wie viele Menschen der Mord an Franco berühre, sagt er, „aber gleichzeitig schaffen wir, die sie gekannt haben, die mit ihr gelebt haben, es nicht, durch den natürlichen Trauerprozess zu gehen. Weil“, er macht eine Pause, schaut auf seine Hände, „alle posten Fotos, alle schreien ‚Marielle lebt‘ – aber sie ist tot.“ Das sei schwer zu verdauen. „Wir beide, wir wollten gemeinsam hierher nach Brasília kommen.“
Bei der Wahl 2018 verpasst David Miranda ein Parlamentsmandat. Dann, Ende Januar, die Nachricht: Sein Parteikollege Jean Wyllys, der erste und bis dahin einzige offen homosexuelle Abgeordnete des brasilianischen Parlaments, wird von einem Auslandsaufenthalt nicht zurückkehren und sein neues Mandat nicht antreten. Grund: Die Morddrohungen gegen ihn seien zu massiv geworden. Zuletzt habe Wyllys sich kaum mehr getraut, seine Wohnung zu verlassen, erzählt eine Mitarbeiterin. Die Sicherheitsmaßnahmen, die ihm das Parlament gewährt habe, seien halbherzig und ineffizient gewesen. Auch innerhalb des Parlaments sei Wyllys angefeindet worden: Jair Bolsonaro, damals noch Abgeordneter, habe sich im Plenarsaal gern hinter Wyllys gesetzt und ihm homophobe Beleidigungen zugeflüstert.
David Miranda rückt auf Wyllys’ Mandat nach. Kaum hat er sein Amt angetreten, kommt die erste Drohmail: „Komm mir nicht in die Quere“, schreibt ein anonymer Absender, „Jean ist wegen mir geflohen.“ Im Deep Web, sagt Miranda, würden ernst zu nehmende Drohungen gefunden. Wie geht man mit so etwas um, kaum ein Jahr nach dem Mord an einer Freundin und Kollegin? „Ich habe Sicherheitsvorkehrungen getroffen“, sagt er in seinem Büro in Brasília, „aber ich lasse mich nicht lähmen. In der Favela ist der Tod etwas Alltägliches, und ich bekomme jeden Tag Nachrichten über Morde an LGBTs, über Morde an der Schwarzen Jugend – ich kann damit umgehen.“
Knapp einen Monat nach diesem Gespräch, in dem er sich so abgeklärt zeigt, sitzt David Miranda in São Paulo in einem Auto, das ihn von einer Parteiveranstaltung zu einem Fernsehinterview bringt, und zittert so stark, dass er fast seinen Saft verschüttet. „Heute hatte ich eine stärkere Angstattacke“, sagt er. Er zeigt seine Hand: „Siehst du das? Mein Geist ist stark, aber mein Körper ist aufgewühlt. Ich kann nicht schlafen, ich habe Albträume.“
Unser Autor stand schon als Kind auf Skiern, heute verspürt er wegen des Klimawandels vor allem eines: Skischam. Für die taz am wochenende vom 15. Februar nimmt er Abschied von der Piste und fährt ein letztes Mal. Außerdem: Wer gewinnt die Bürgerschaftswahlen in Hamburg? Auf Wahlkampftour mit den Kandidaten der Grünen und der SPD. Und: Waffel kann auch Döner sein, Obstdöner. Über das heilendste Gericht der Welt. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Er ist wieder in die Schusslinie geraten, seit sein Mann begonnen hat, geleakte Telegram-Chats des beliebtesten Ministers des Landes zu veröffentlichen. Sérgio Moro wurde berühmt als Richter der Operation Lava Jato („Waschanlage“), die Dutzende Unternehmer und Politiker wegen Korruption und Geldwäsche ins Gefängnis brachte. Er schickte den linken Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva ins Gefängnis und schloss ihn damit von der Präsidentschaftswahl 2018 aus, die Lula sonst wohl gewonnen hätte. So war der Weg frei für Bolsonaro, der Moro postwendend zum Justizminister machte.
Doch seit Juni veröffentlicht Glenn Greenwalds Plattform The Intercept Brasil geleakte Chats zwischen Moro und den Staatsanwälten der Lava-Jato-Taskforce, die Moro alles andere als unparteiisch wirken lassen und die Vermutung der Lula-Anhänger erhärten, dass dessen Verurteilung politische Gründe gehabt habe. Das Regierungslager reagiert, indem es vom Inhalt der Gespräche ablenkt und sich auf die Journalisten stürzt.
Bald nach der ersten Veröffentlichung über Sérgio Moro bekommen Greenwald und Miranda eine Mail voll homophober Beschimpfungen und wüster Drohungen gegen ihre Kinder und Mirandas Mutter. Politiker, darunter die Bolsonaro-Söhne, verbreiten Verschwörungstheorien, wonach Miranda sein Mandat von Jean Wyllys gekauft habe und von seinem Kabinett aus einen internationalen Spionagering betreibe. Sie setzen in sozialen Netzwerken die Wörter „Ehemann“ und „verheiratet“ in Anführungszeichen, twittern homophobe Verunglimpfungen von Greenwalds Namen, ihre Anhänger nennen Miranda Greenwalds „Ehefrau“, schreiben von „Schwuchteln“ und „Schwanzlutschern“.
Und Präsident Bolsonaro? Verbreitet vor laufenden TV-Kameras die Verschwörungstheorie weiter, nennt dabei nicht die Namen von Greenwald, Miranda und Wyllys, sondern spricht lieber gestenreich von „jenem Pärchen da“ und „diesem Mädchen außerhalb des Landes“. Die Finanzbehörden stürzen sich auf die Vermögensverhältnisse des Ehepaares. Regierungsanhänger fordern die Abschiebung Greenwalds, der bis heute US-Staatsbürger ist. Abschieben könne man ihn nicht, bedauert Präsident Bolsonaro, „weil der Gauner, um so ein Problem zu vermeiden, in Brasilien einen anderen Gauner geheiratet und Kinder adoptiert hat“ – aber „vielleicht geht er hier in den Knast“.
David Miranda wusste, worauf er sich einlässt, als er das Parlamentsmandat annahm. Warum er sich das antut, fragt ihn vor der Pride-Parade in seiner Hotellobby ein niederländischer Journalist. „Es gibt so viele Menschen, die jemanden brauchen, der für sie sprechen kann: LGBTs, Schwarze, Menschen, die aus derselben Armut kommen wie ich“, sagt Miranda. „Wenn ich die Stimme dieser Menschen sein kann, dann werde ich das sein.“
Es sind Menschen wie Mateus, 22, graues T-Shirt, Jeansjacke, einer von Dutzenden, die Miranda in der bunten Menge auf der Pride umarmen und um ein Selfie bitten. „Alles, was er sagt und tut, repräsentiert mich“, sagt Mateus. „Ohne ihn würde ich im Parlament nicht existieren.“ Bei einer Parteiveranstaltung am Abend davor meldet sich ein schüchterner 19-Jähriger in Jogginghosen zu Wort, Tattoos am Unterarm, große Silberketten um den Hals. „So wie du bin ich schwul, Schwarz, aus der Favela“, sagt er zu Miranda. „Die Arbeit, die du machst, inspiriert mich so sehr.“
Unter dem Jubel des Publikums steht Miranda auf und umarmt ihn. Hinter ihnen hängt ein großes Transparent, darauf die Namen von Miranda und Greenwald und in Neonorange ein Slogan: „Die LGBT+ werden Bolsonaro besiegen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken