piwik no script img

Die WahrheitDie Dämonen des Gehörs

Achten Sie auch auf Ihre Mensurlinie? Sollten Sie. Ansonsten kann es schnell zu akustischen Täuschungen auf der offenen Shepard-Skala kommen.

E in Irrtum ist ausgeschlossen. Wenn ich auch schwerhörig bin und von jeher dazu neige, alles falsch zu verstehen, weil das Falsche unter literarischen Gesichtspunkten viel attraktiver klingt als das Richtige, habe ich doch klar und deutlich gehört, was die Person aus dem Fenster im vierten Stock gerufen hat. Bei der Harfe meiner Großväter schwöre ich, dass ihre Worte waren: „Der verpuppte Schrecken der Mensurlinie überschattet Generationen!“ Oder aber sie hat eben nicht diese Worte gerufen. Mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste und spielt mir bisweilen üble Streiche.

So bewahre ich etwa die Erinnerung an einen, wie ich finde, ziemlich unwahrscheinlichen Vorfall. Als älterer Herr meldete ich mich einstmals bei der örtlichen Polizeiwache, um das von mir beobachtete Auftreten fremder Männer mit großen Fledermausflügeln zu melden. Der Beamte, der meine Aussage zu Protokoll nahm, fragte, ob ich über irgendwelche Beweise verfüge.

„Natürlich“, erwiderte ich und legte ihm einige fotokopierte Kollagen vor, die offenbar aus dem bekannten Zyklus „Une semaine de bonté“ von Max Ernst stammten. „Was soll das sein?“ fragte der Polizeibeamte. Erstaunt über eine so dumme Frage gab ich zur Antwort: „Beweisfotos.“ – „Haben Sie diese Aufnahmen gemacht?“ – „Ja.“ Der Beamte widersprach: „Die sehen aber nicht aus wie Fotos.“ – „Ich habe eine sehr alte Kamera benutzt“, erklärte ich.

Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck schaute der Polizist die Bilder an. Dann sprach er: „Uns liegt auch der Bericht über einen sehr großen Mann vor, der in der Luft schwebt und seine Größe verändern kann. Laut Angaben mehrerer Zeugen soll ihm die Wichtigkeit seiner Mission anzusehen sein. Wissen Sie Näheres über diesen Mann?“

Fledermausflügeltür

Ich konnte lediglich eine Vermutung äußern: „Vielleicht steht er – wie auch die Männer mit den großen Fledermausflügeln – in irgendeiner Verbindung mit diesen Dämonen, von denen in letzter Zeit so viel zu hören ist?“ Der Beamte nickte beifällig mit dem Kopf: „Ja“, sagte er, „das ist sehr gut möglich. Auch würde es gut dazu passen, dass diese Dämonen angeblich aus alten Fotografien herauskommen.“

„Es heißt weiterhin, sie hätten zwei linke Ohren“, wandte ich ein. Damit brachte ich mein Gegenüber auf eine Idee. Mit gefurchter Stirn fragte mich der Mann: „Haben Sie vielleicht zwei linke Ohren?“ Die Frage traf mich „erklärend wie ein Erkenntnisstrahl“. Übrigens eine Formulierung meiner Großväter.

Jäh begriff ich, dass sowohl meine Schwerhörigkeit als auch mein notorisches Falschverstehen gleichermaßen dämonischen Ursprungs sein konnten. Es zeigte sich jedoch schnell, dass die Anordnung meiner Ohren vorschriftsmäßig war. Beruhigt raffte ich meine Kopien zusammen und verließ die Polizeiwache. Auf dem Heimweg durch die verwüstete Innenstadt hörte ich hoch über mir eine Stimme rufen: „Der verpuppte Schrecken der Mensurlinie überschattet Generationen!“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!