Die Performer Forced Entertainment: Wie ein Treffen mit alten Freunden
Die britischen Performer Forced Entertainment sind mit ihren Fans älter geworden, trotzdem der Gegenwart zugewandt. Eine Liebeserklärung.
Man hat nicht oft Gelegenheit, eine Performance nach mehr als zwei Jahrzehnten wiederzusehen wie aktuell den Beichtmarathon „Speak Bitterness“ von Forced Entertainment. Es ist ein bisschen so wie mit einst geliebten Menschen. In die Vorfreude mischen sich vage Befürchtungen: Wird man den anderen, der so prägend für die eigene Geschichte war, wiedererkennen? Und was, wenn man einander nichts mehr zu sagen hat?
Dabei konnte man die rührige Gruppe aus Sheffield in den letzten Jahren kaum aus den Augen verlieren. Allein beim Münchner Spielart-Festival ist sie in diesem Jahr zum zehnten Mal dabei. Zu Ehren ihres (Mit-)Entdeckers Tilmann Broszat kommt sie gleich mit drei Stücken und alles in allem 24 Stunden Theater bei freiem Eintritt. Der langjährige Leiter der Performance-Biennale Spielart überlässt nach 25 Jahren deren Steuer seiner Co-Leiterin Sophie Becker alleine. Und Tim Etchells und sein Team winken zum Abschied. Man ist gemeinsam älter geworden – und das spürt man, aber nicht schmerzlich, sondern wohlig warm.
Zwar rätselt das nach zweiundzwanzig Jahren etwas löchrig gewordene Gedächtnis, ob in „Speak Bitterness“ bei der Spielart-Premiere der Briten 1997 schon genauso oft vom Tod die Rede war – „wir haben Marcellas Account nach ihrem Tod weitergeführt“ – und ob die Rückzugsmöglichkeiten auf der Bühne von den sechs Performern damals schon ebenso ausgiebig genutzt worden sind.
Aber genau da hat das besagte wohlige Gefühl seinen Ursprung: Auch wenn die Performances der Briten minutiöser durchgeplant sind, als sie wirken, und ihre Virtuosität gerade darin besteht, sie wie frisch erfunden aussehen zu lassen: Das glasklare Setting, die schlichten Regeln folgende, aber prinzipiell flexible Struktur dieses Abends scheint geradezu dafür gemacht, sich ändernden Bedürfnissen Raum zu geben. Zugleich ist sie aufgrund des Zettelkastenprinzips des unermüdlichen Textesammlers Etchells für inhaltliche Aktualisierungen offen. Sie kann also wachsen und sich verändern, wie es ihre Spieler und die Gegenwart verlangen. Das ist menschenfreundlich und wunderschön.
Eitelkeiten und Versäumnisse kommen auf den Tisch
Eine lange Tafel steht am Bühnenrand der Münchner Muffathalle. Hinter ihr stehen sechs Stühle, auf denen die Performer frontal zum Publikum Platz nehmen können. Sie haben Papiere vor sich, zu denen sie nach Bedarf greifen, und weitere Stühle hinter sich, auf denen sie mal Pause machen können. Unter sechs Glühbirnen werden nun sechs Stunden lang lässliche und gewaltige Sünden gestanden, witzige wie „wie können nicht gleichzeitig gehen und Textnachrichten versenden“ und nachdenklich machende wie „wir haben Menschen falsche Hoffnungen gemacht“.
Alle Eitelkeiten, Sehnsüchte und Versäumnisse kommen auf den Tisch. Sehr persönliche Katastrophen – wie zu kleine Geschlechtsorgane – und historische Katastrophen wie das Attentat von Christchurch und der Anschlag auf das Bataclan werden eingespeist. Man wohnt hier einem erstaunlich entspannten und zugleich nichts übersehenden Tribunal über die Menschheit bei, deren Verbrechen die Kläger meist stoisch auf die eigenen Schultern nehmen.
„Wir“ haben in der ersten Person Plural Fett angesetzt oder Rattengift auf Kinderspielplätzen ausgelegt. Als Zuschauer taucht man ein in dieses „Wir“, in diese in vielerlei Hinsicht unhierarchische Performance, die – wie immer bei Forced Entertainment – keiner klassischen Dramaturgie folgt, weshalb man den Raum nach Belieben betreten und verlassen kann. Auch wenn es schöner ist, sich ganz hineinfallen zu lassen in diesen durch Wiederholung und Langsamkeit geprägten und im besten Sinne zeitlosen Abend, der ohne jegliche Interaktion zwischen Publikum und Performern eine seltsame Intimität schafft und eine ganz unalltägliche Raum-Zeit-Erfahrung.
Dass sie sich aus allen möglichen theatralen Strategien oft nur eine herausgreifen, um deren Möglichkeiten auszureizen, machte Forced Entertaiment zu Helden des postdramatischen Theaters, bevor es den Begriff überhaupt gab. Die Tatsache, dass Tim Etchells, Robin Arthur, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden und Terry O’Connor seit 35 Jahren unverändert zusammenarbeiten, trägt zur intimen, fast familiären Atmosphäre ihrer Performances bei, der man sich als Zuschauer zugehörig fühlt, auch wenn man nie ein persönliches Wort mit den Performern gewechselt hat.
Kamikaze-Performen
Dass die Unbedingtheit, mit der sich die Kerngruppe in jede Unternehmung stürzt – ihr Hochleistungs-, ja Kamikaze-Performen –, mit den Jahren nicht nachgelassen hat, war in ihrer 2017 auch zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Produktion „Real Magic“ zu erleben. Der so wunder- wie qualvolle Zwitter aus Gameshow-, Mentalmagie- und Vergeblichkeitssatire sperrt Claire Marshall, Jerry Killick und Richard Lowdon in eine absurde Situation ein, von der die Vorstellung nur einen kleinen Ausschnitt zeigt.
Abgekämpft und zerzaust kommen sie schon auf die Bühne, schlüpfen für resignierte Ententanz-Einlagen in Plüschkostüme und in die Rollen von Fragenden und Antwortenden in einer Show, in der einer drei Begriffe raten soll, an die ein anderer denkt. Und es sind – bei wachsender Zerrüttung der Zuschauergemüter und immensen Hoffnungsschwankungen auf Seiten der Performer – immer dieselben drei falschen.
Forced Entertainment, „And on the Thousandth Night“, 8. November Muffathalle in München. Das Spielart-Festival in München läuft bis 9. November.
Mehr zu den Tourdaten von Forced Entertainment.
Der Abend erzählt eine moderne Variante des Sisyphos-Geschichte und obendrein wohl für jeden einzelnen Zuschauer etwas anderes, ist aber auch eine Verausgabungsschlacht sondergleichen – wenn auch mit rund achtzig Minuten nach Forced-Entertainment-Maßstäben eine sehr kurze.
Über die Lust seines Kollektivs auf die performative Langstrecke hat Etchells, als sie 2016 mit dem Ibsen-Preis ausgezeichnet wurden, gegenüber dem Guardian Auskunft gegeben: „Du wirst blöder, langsamer; du verlierst die Selbstkontrolle. Und gleichzeitig wirst du offener für verschiedene Energien und Impulse … Und es entsteht eine besondere Art der Verletzlichkeit. Leute sehen dir dabei zu, wie du richtig brillante Momente hast. Und sie sehen auch, wie du flach aufs Gesicht fällst.“
Die permanente Möglichkeit des Scheiterns
Diese Verletzlichkeit, die permanente Möglichkeit des Scheiterns, ja die Feier desselben machen Forced Entertainment aus. Ob sie in ihrem jüngsten Stück „Out of Order“ als traurige Clowns Gags proben, wieder vergessen und sich dabei buchstäblich ineinander verbeißen oder in ihrem Durational-Erstling „12am: Awake & Looking Down“ immer wieder neu versuchen, zwischen wechselnden Verkleidungen, schrägen Figurenbezeichnungen auf Pappe und dem Publikum Brücken zu schlagen. Der zeitlich halbierte, ursprünglich 12-stündige Abend war ebenfalls bei Spielart zu sehen.
Weil er körperlich herausfordernd ist, bat die Gruppe, schon am Nachmittag beginnen zu dürfen. Um 17 Uhr sehen die fünf auf der Bühne noch frisch aus. Um 23 Uhr sind sie durch unzählige Transformationen gegangen, haben versucht, Zuschreibungen wie „Burger King“ oder „nine-year-old shepherd boy“ standzuhalten oder auszufüllen – und zu ignorieren, dass die Bühnenpartnerin gerade einen Karton über einen hält, auf dem „White Trash“ steht. Es gibt herrliche Charakterillustrationen wie Richard Lowdons „mutiger, aber dummer Typ“, der wieder und wieder mit dümmlichem Grinsen ein Messer neben seine nackten Zehen schmeißt, viel Scheitern, viel Würde und viel Selbstironie zu erleben.
Vielleicht sind die Performer am Ende abgekämpfter als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Aber das Kämpfen, das Ringen darum, mit minimalen Mitteln das Maximale aus der gemeinsam verbrachten Zeit zu schlagen, ist ja das, worum es hier geht.
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