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Regierungsbildung in IsraelLinke aus dem Winterschlaf holen

Judith Poppe
Kommentar von Judith Poppe

Das erneute Unentschieden bei Israels Parlamentswahlen macht die Regierungsbildung schwierig. Denkbar wäre eine Minderheitsregierung.

Benny Gantz am 2. November bei einer Veranstaltung zum Gedenken an Yitzhak Rabin Foto: Corinna Kern/reuters

I srael steckt nach den Neuwahlen erneut in einer Sackgasse. Eine dritte Wahl binnen kaum einem Jahr wird immer wahrscheinlicher. Nachdem der konservative Benjamin Netanjahu an der Regierungsbildung scheiterte, steht nun sein Herausforderer Benny Gantz vom Mitte-Bündnis Blau-Weiß vor derselben schwierigen Aufgabe. Auch für ihn gibt es nur eher unwahrscheinliche Optionen:

Eine Große Koalition zwischen Blau-Weiß und Likud ist unwahrscheinlich, weil Gantz ein Zusammengehen mit dem mutmaßlich korrupten Netanjahu ablehnt. Eine Regierung mit den beiden ultraorthodoxen Parteien ist wiederum unwahrscheinlich, denn Gantz ging mit dem Versprechen in die Wahl, eine weltliche Regierung zu gründen. Außerdem bräuchte er das Okay von Avigdor Lieberman.

Ginge es nach dem weltlichen und ultranationalen Lieberman, würde Gantz eine Große Koalition, bestehend aus Blau-Weiß und Likud, bilden, der er selbst sich mit Freuden anschließen würde. Die dritte Option wäre eine Minderheitsregierung, die sich zusammensetzt aus Blau-Weiß und mehreren linksliberalen Parteien und die unterstützt wird von dem arabischen Bündnis der Gemeinsamen Liste.

Die arabischen Politiker würden zwar nicht in die Koalition einziehen, der Regierung aber Unterstützung von außen garantieren. Selbst mit der Unterstützung der Gemeinsamen Liste hätte Gantz noch keine Mehrheit in der Knesset und wäre, um seine Koalition zu halten, auf die Duldung des ultra­na­tio­nalen Lieberman angewiesen. Selten zuvor wurde eine so unwahrscheinliche Variante so erhitzt diskutiert wie die Minderheitsregierung.

Eine Minderheitsregierung könnte Israel sehr gut tun

Vor allem Netanjahu macht Stimmung gegen das vermeintliche Schreckgespenst. Aus seiner Perspektive, so viel muss man dem von Korruptionsvorwürfen Gebeutelten lassen, wäre eine Regierung ohne seinen Likud ein Desaster. Die Angst vor der Minderheitsregierung geht derweil in ganz Israel um.

Ynet, das Nachrichtenportal der Tageszeitung Jediot Achronot, betrachtet eine Minderheitsregierung mit Unterstützung der Gemeinsamen Liste als das schlimmstmögliche Szenario und als Gefährdung der Sicherheit des Landes. Gantz würde das öffentliche Vertrauen missbrauchen, heißt es auf Ynet, wenn er sich auf so etwas einließe.

Die gute Nachricht von den letzten Parlamentswahlen ist, dass die Gemeinsame Liste die eigentliche Gewinnerin war

Tatsächlich müsste Gantz wohl befürchten, sich mit einer solchen Koalition politisch zu verbrennen und für die nächste (wahrscheinliche) Wahl wertvolle Stimmen aus dem Mitte-rechts-Lager zu verlieren. Leider. Denn eine Minderheitsregierung könnte Israel sehr guttun.

Die Arbeitspartei, der nur knapp und nur im Bündnis mit der Kleinstpartei Gescher der Einzug in die Knesset gelang, strebt unter dem Vorsitz des früheren Gewerkschaftschefs Amir Peretz einen radikalen Richtungswechsel in der Wirtschaftspolitik an. Dazu gehören die Neuverstaatlichung der Gesundheitsdienste, der Mindeststundenlohn von umgerechnet 10 Euro, die Rentenerhöhung und die Höherbesteuerung einkommensstarker Klassen.

Die Minderheit müsste endlich gehört werden

Überhaupt könnte die Rückkehr linker Politiker in die Regierung die Linke aus ihrem Winterschlaf wecken. Und nicht zuletzt könnte eine solche Minderheitsregierung dazu führen, dass 20 Prozent der israelischen Bevölkerung – denn jeder Fünfte in diesem Land ist arabischer Israeli – endlich gehört werden müssten und nicht mehr lediglich als Sicherheitsrisiko betrachtet würden. An die Stelle der von Netanjahu jahrelang vorangetriebenen Spaltung und Hetze würde wieder eine Kultur des Dialogs treten.

Die gute Nachricht von den letzten Parlamentswahlen ist, dass die Gemeinsame Liste eigentliche Gewinnerin war. Nach einer für die arabische Bevölkerung hohen Wahlbeteiligung ist sie mit 13 Mandaten drittstärkste Fraktion in der Knesset geworden. Statt dass sie, wie so oft, selbst zum Thema gemacht werden, setzen die arabischen Israelis derzeit erfolgreich ihre eigenen Themen und sind mit ihren Forderungen auch in den Medien so präsent wie selten vorher.

Die zweite gute Nachricht lautet: Der politische Stil von Gantz hat sich gegen den von Netanjahu durchgesetzt. Zum ersten Mal seit zehn Jahren ist es nicht mehr an Netanjahu, eine Regierung zu bilden. Trotzdem sollten wir uns nichts vormachen: Der frühere Generalstabschef ist in Bezug auf die Siedlungspolitik nicht weit von Netanjahu entfernt. Innenpolitisch verfolgt Gantz allerdings eine säkulare und liberale Politik. Und die beiden unterscheidet noch etwas Entscheidendes: die politische Sprache.

So veröffentlichten Blau-Weiß und die Gemeinsame Liste Fotos, auf denen die beiden arabischen Politiker Ayman Odeh und Ahmed Tibi von der Gemeinsamen Liste zusammen mit Gantz an einem Tisch sitzen und Koalitionsverhandlungen führen. Das letzte Mal, dass arabische Parteien zu Koalitionsverhandlungen eingeladen wurden, war 1999, als sich Ehud Barak gegen Netanjahu durchsetzte, sich schließlich aber doch gegen eine Koalition mit den Vertretern der Minderheit entschied.

Innenpolitisch säkulare und liberale Politik

Blau-Weiß und die Gemeinsame Liste waren sich einig über die „gute und interessante Atmosphäre“ während des Gesprächs. Es seien eine Reihe von Themen zur Sprache gekommen, die wichtig für die arabische Gesellschaft seien und von einer Regierungsbeteiligung „unabhängig angegangen werden müssen“, wie Gantz versprach. Diese neuen Töne krempeln noch nicht das politische Klima um. Aber sie geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus.

Bei dieser Wahl hat Netanjahu an Einfluss verloren, die arabischen Parteien haben an Legitimation und politischer Stärke gewonnen, und Gantz hat gezeigt, dass eine andere Streitkultur als Hetze gegen ­Andersdenkende möglich ist. Hat es in den letzten Jahren so ausgesehen, als sei rechts und ultrarechts die Mitte, so verschiebt sich das Gewicht wieder ein wenig nach links. Davon hat Israel noch keine Regierung. Doch vielleicht sind diese Veränderungen der Beginn von weiteren Umwälzungen. Es wäre zu hoffen.

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Judith Poppe
Auslandsredakteurin
Jahrgang 1979, Auslandsredakteurin, zuvor von 2019 bis 2023 Korrespondentin für Israel und die palästinensischen Gebiete.
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1 Kommentar

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  • Mit der Behauptung: „… 20 Prozent der israelischen Bevölkerung – denn jeder Fünfte in diesem Land ist arabischer Israeli …“ wird ein Gegensatz konstruiert, der so tatsächlich nicht existiert. Unter diesen Umständen sind die Prozentangaben falsch: Rund die Hälfte der Israelis sind aus arabischen Ländern zugewandert, weitere 20% sind der Rest der dort ursprünglich beheimateten Einwohner, rund 20% stammen aus Europa und der Rest aus der sonstigen Welt. Damit sind rund 70% arabische Israeli. Gerade aus dieser Tatsache erwachsen viele der dortigen Extreme, die eine der Ursachen dafür darstellen, warum die Nahostkonflikte so unlösbar erscheinen.

    Die zweite Ungenauigkeit liegt in der Beschreibung „in diesem Land“. Rund 8,5% der Wahlberechtigten wohnen in den sogenannten besetzten Gebieten. Versteht man diese der Realität entsprechend als zum Land gehörig, dann sind auch sie natürlich Bürger „in diesem Land“, ansonsten sind sie außerhalb, womit sich die genannten Zahlen entsprechend verändern. Insbesondere wären dann die Bewohner Ostjerusalems, der Westbank, des Gazas, der Golanhöhen und der zwischen der sogenannten Grünen Linie und der Mauer zu berücksichtigen. Außer Betracht bleibt hier, dass das jedem Inhaber eines israelischen Passes theoretisch zustehende Wahlrecht einem Teil der israelischen Staatsbürger faktisch vorenthalten wird. Auch das wirkt sich natürlich auf das dortige politische Klima aus.

    Das zur Ergänzung der im übrigen hier recht gut umschriebenen Probleme zur dortigen politischen Stimmungslage und ihren Auswirkungen auf die Regierungsbildung.