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Wenn das Alte stirbt

Während die türkische Wirtschaft schrumpft und der AKP die Wähler*innen davonlaufen, wollen Erdoğans ehemalige Gefährten gleich zwei alternative Parteien gründen. Ein Blick auf die Entwicklungen der letzten Monate

„Istanbul ist für uns eine Liebesgeschichte“: Istanbul im Wahlkampf 2019 Foto: Joris van Gennip/laif

Von den Gazete-Autoren

Manche komplexe Analyse beginnt mit einem einfachen Satz. „Es gibt keine Partei namens AKP mehr“, sagt ein älterer Mann bei einem Straßeninterview in der kurdischen Metropole Diyarbakır. „Es gibt nur noch eine kleine MHP und eine große MHP. Die AKP hat sich in eine chauvinistische, rassistische Partei verwandelt.“ Die Partei der Nationalen Bewegung (MHP) hat bei den Kommunalwahlen im März zwar keine 8 Prozent bekommen. Doch ihre nationalistische Agenda bestimmt seit mehreren Jahren den Handlungsspielraum ihres großen Koalitionspartners, Staatspräsident Erdoğans AKP.

Erlebt die mächtige Regierungspartei ihren Niedergang? Die einst als reformerisch, gar subversiv gegenüber den verknöcherten Institutionen auftretende Partei hat nicht nur erfolgreich nach der Staatsmacht gegriffen. Die Staatsmacht hat auch von ihr Besitz ergriffen, Nationalismus und Kurdenhass das einstige Prestigeprojekt der AKP – einen Friedensschluss mit der PKK – vollends ersetzt. Die politischen Versprechen der Partei engten sich zunehmend auf ein bloßes Wirtschaftswachstum ein. Erdoğans Schwiegersohn und Finanzminister Berat Albayrak kündigte letztes Jahr ein neues Wirtschaftsprogramm an, das ein Wachstum von 2,3 Prozent versprach. Im ersten Halbjahr 2019 ging es dann allerdings eher abwärts.

Die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 31. März sind die ersten konkreten Folgen eines wachsenden Vertrauensverlusts. Die Oppositionsparteien vereinbarten, an strategischen Orten jeweils die Kandidat*innen der anderen Parteien zu unterstützen. Auf diesem Weg konnten sie nicht nur in Großstädten wie Istanbul und Ankara Mehrheiten erreichen, sondern im ganzen Land zeigen, dass demokratischer Wandel in der Türkei nach wie vor möglich und die AKP eben nicht unbesiegbar ist.

Der Wandel kann aber bisher nur dort stattfinden, wo es der Regierungspartei nicht mehr gelingt, die Institutionen zu einem Vorgehen zu zwingen, das dem Machterhalt der Partei dient. So annulierte die Wahlkommission die Bürgermeisterwahlen in Istanbul, nachdem Ekrem İmamoğlu mit 13.000 Stimmen Vorsprung gegenüber dem AKP-Kandidaten Binali Yıldırım gewonnen hatte. Bei der Wiederholung des Wahlgangs am 23. Juni war der Vorsprung İmamoğlus dann auf 800.000 angewachsen. Die AKP konnte der Bevölkerung kaum triftige Gründe dafür liefern, weshalb sie die Bürgermeisterwahl in Istanbul wiederholen ließ. Zu offensichtlich war die Entscheidung von einem kurzfristigen Impuls geprägt.

Die AKP ist längst nicht mehr der Spielemacher. Aber sie investiert wertvolle Ressourcen in ihre neue Rolle als Spielverderber. Mitte August wurden die Ende März gewählten Oberbürgermeister*innen der Großstädte Diyarbakır, Van und Mardin ihrer Ämter enthoben. Die Zentralregierung setzte die amtierenden Gouverneure als kommissarische Verwalter ein. Sie rechtfertigte diesen Schritt damit, dass die HDP kommunale Gelder an Terrororganisationen transferiere. Bisher gibt es dafür aber keine Beweise. In den kurdischen Provinzen gehen die Menschen nach wie vor jeden Tag auf die Straße, um gegen die Absetzung der Bürgermeister*innen zu protestieren. Im Westen des Landes gerät der Fall allmählich in Vergessenheit. Dass der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu Anfang September nach Diyarbakır reiste, um den abgesetzten Bürgermeister Mızraklı zu besuchen, ist zwar Symbolpolitik, aber keine unwichtige. Innenminister Süleyman Soylu reagierte entsprechend heftig darauf: „Dummkopf, kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, sonst werden wir dich zerfetzen.“ Der Minister drohte unverhohlen an, dass er eine Absetzung der CHP-Bürgermeister in Istanbul und Ankara verfügen könne. Gleichzeitig wurde Canan Kaftancıoğlu, die den Istanbuler Parteiverband der CHP führt und einen entscheidenden Anteil am Wahlsieg hatte, zu fast 10 Jahren Haft verurteilt – wegen verjährter Tweets.

Die AKP ist längst nicht mehr der Spielemacher. Aber sie investiert in ihre neue Rolle als Spielverderber

Kurz nach den verlorenen Wahlen regten sich zwei der alten Schwergewichte der AKP, um die lang erwartete Neugründung von Alternativparteien zu verkünden. Ali Babacan, der insgesamt 13 Jahre lang Ministerposten in AKP-Regierungen innehatte, trat im Juli aus der Partei aus und spricht seither von einem „unvermeidlichen Neuanfang“. Bis Jahresende will er seine Partei gründen. Zehn Tage später meldete sich auch der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu zu Wort. Er gehört zu jenen ehemaligen Granden der AKP, die in den letzten Jahren immer wieder den Führungskurs der AKP kritisiert haben. Wenn es keinen anderen Ausweg mehr gebe, müsse eine neue Partei her, sagte Davutoğlu seinerseits.

Noch ist nicht abzusehen, welches der beiden Projekte mehr Chancen auf Erfolg hat. Konkretes ist über die Neugründungen noch nicht zu erfahren. Die Biografien der beiden Gründer geben allerdings erste Hinweise auf die jeweilige Richtung. Ali Babacan tritt für eine Rückkehr zur liberalen Mitte-rechts-Politik der jungen AKP der 2000er Jahre ein. Als Wirtschafts- und Außenminister sowie stellvertretender Ministerpräsident ist er allerdings persönlich mitverantwortlich dafür, dass das AKP-Regime genau zu dem wurde, was es heute ist. Er kann sich zwar die Glanzjahre der türkischen Wirtschaft von 2002 bis 2007 zugutehalten. Doch die von ihm geförderte Fremdwährungsverschuldung der Privatwirtschaft wird immer wieder als eine Ursache der Wirtschaftskrise genannt.

Der ehemalige Ministerpräsident und Außenminister Ahmet Davutoğlu steht dagegen für ein Konzept der Türkei als islamischer Regionalmacht. Seine Außenpolitik wird oft mit der Verwicklung der Türkei in den Syrienkrieg in Verbindung gebracht. In der Türkei gilt er als verantwortlich für die mittlerweile sogenannte „Flüchtlingskrise“. Mit Selbstkritik ist Davutoğlu bisher ebenso wenig an die Öffentlichkeit getreten wie Babacan. Trotzdem würden laut einer aktuellen Umfrage knapp 11 Prozent der türkischen Bevölkerung Babacans Partei wählen und 8 Prozent die von Davutoğlu.

Die Reaktionen des Regimes sind noch verhalten. Gegen Babacan wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung eingeleitet. Davutoğlu hat gerade erst sein Parteibuch zurückgegeben – mit den Worten, dass er für die AKP aus der AKP austrete. Der langsame und qualvolle Tod des Erdoğan-Regimes ist mit bloßem Auge sichtbar. Dennoch werden sich viele Akteure wohl nicht aus ihrer Deckung trauen, bis es einen amtlichen Totenschein gibt.

Ähnliches gilt für die internationale Politik. Die Konflikte der türkischen Innenpolitik wirken sich unmittelbar auf die Außenpolitik aus, die außenpolitischen Entwicklungen ihrerseits auf die Stimmung im Land. Jüngst drohte Erdoğan wieder, die in der Türkei lebenden Syrer*innen gen Europa zu schicken, sollte er in Nordsyrien nicht genau den Sicherheitskorridor bekommen, den er sich wünscht. Dort soll das staatliche türkische Wohnungsbauunternehmen Toki Wohnungen für eine Million syrischer Geflüchteter errichten, die dort angesiedelt werden sollen. Die EU soll das Bauvorhaben finanziell unterstützen und die Durchsetzung der türkischen Sicherheitszone unterstützen. Derzeit verfolgt Erdoğan dieses Ziel in einer wirren Dreierbeziehung mit Russland und den USA.

Doch selbst unter den syrischen Dschihadisten schwindet sein Ansehen. In den ersten Septemberwochen drängten Tausende dschihadistische Kämpfer gegen den türkischen Grenzzaun. Das syrische Regime hatte sie aus Idlib vertrieben. Die aufgebrachte Menge verbrannte an der syrischen-türkischen Grenze Konterfeis des türkischen Staatspräsidenten und forderte ein Ende der militärischen Auseinandersetzungen um Idlib. Nachdem die AKP die Milizen jahrelang unterstützt hatte, verlangen die Kämpfer nun eine freie Einreise in die Türkei, der sie gleichzeitig politischen Verrat vorwerfen.

Die AKP ist seit nunmehr 17 Jahren an der Macht. Dank ihres Pragmatismus gelang es ihr in der Vergangenheit immer wieder, gegensätzliche gesellschaftliche Kräfte zu integrieren. Das heutige Gesamtbild dagegen ist ernüchternd. Eine zunehmend schrumpfende Führungsriege führt Abwehrkämpfe gegen so ziemlich alles andere, das sich in der Gesellschaft regt. Das Alte stirbt, während das Neue noch nicht geboren werden kann.

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