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Männliche MagersuchtDie stille Scham

Magersucht gilt immer noch als „Mädchenkrankheit“. Doch die Zahl erkrankter Jungen und Männer nimmt zu. Sie leiden oft leiser und bleiben unsichtbar.

Viele Männer kämpfen nicht nur mit der Magersucht, sondern auch damit, sie offen zuzugeben Foto: Julia Droop/plainpicture

Berlin taz | Den Berliner Aron Boks muss man sich als einen vorstellen, der nervös am Tresen sitzend die Aluminiumfolie vom Hals einer Bierflasche abfummelt. So beschreibt er es zumindest in seinem autofiktionalen Buch „Luft nach unten“, das gerade erschienen ist. Untertitel: „Wie ich mit meiner Magersucht zusammenkam und mit ihr lebte.“

Boks, 22, schildert darin seine Karriere als Essgestörter mit allen relevanten Haltestellen: Kalorientabelle, 0,1-Prozent-Fett-Joghurt, Körperschemastörung, Klinik. Und zwar ausgerechnet als Mann. So wird das Buch jedenfalls vermarktet: „Anorexia nervosa. Und das als Junge!“ hat der Verlag auf den Buchrücken gedruckt.

Ein Kapitel heißt „Mädchenkrankheit“, ein weiteres nach einem alten Song von The Cure: „Boy’s don’t cry.“ In einer Gesellschaft, die binäre Geschlechterbilder gewohnt ist, gibt es soziale Erwartungen daran, was Boys tun. Weinen gehört nach diesem Typenverständnis eher nicht dazu – und essgestört sein schon gar nicht. Aber inwiefern spielt das Geschlecht überhaupt eine Rolle, wenn es um Kälteschübe, Wiegetage und Essbegleitung geht? Und ist ein Mann anders magersüchtig als eine Frau?

Anruf in Wien, am Apparat ist Dr. Christof Argeny. Der 55-jährige Psychiater und Psychotherapeut leitet das Kompetenzzentrum „sowhat“, beschäftigt sich seit 13 Jahren schwerpunktmäßig mit Essstörungen. „Bei der Behandlung gibt es keine wesentlichen Unterschiede zwischen Mädchen und Burschen“, sagt er. Laut Statistik hingegen ist das Verhältnis eindeutig: Die Zahl der männlichen Patienten nehme zwar zu. „Aber das sind keine epidemischen Ausmaße“, sagt Argeny.

Mit den Pfunden verschwindet auch das, was als männlich gelesen wird

Noch immer sind gut 90 Prozent der Magersüchtigen weiblich. Bei den Bulimiker*innen sind es laut Ärzteblatt etwa 85 Prozent. Eine Verteilung, die sich durchaus auf die Praxis auswirkt: In Gruppentherapien würde sich ein einzelner Mann unter vielen Frauen oft unwohl fühlen, heißt es unter Expert*innen. Auch Christof Argeny sagt: „Es wird empfohlen, Männer unter sich zu lassen.“ Bloß: Bei den vergleichsweise geringen Patientenzahlen vermag kaum eine Einrichtung, rein männliche Gesprächsrunden zu organisieren.

Dass Männer sich selten in Behandlung begeben, hat auch mit Scham zu tun. „Das ist ja auch alles sehr peinlich“, schreibt Aron Boks in seinem Buch. Und meint damit: Kaum mehr in die kleinste Hosengröße in der Herrenabteilung passen. Weil er ständig friert, so erzählt er es, trägt er stets drei Schichten Klamotten, die seinen Körperbau verstecken. Mit den Pfunden verschwindet auch das, was als „männlich“ gelesen wird – physiognomisch und seelisch.

Keine essgestörten Männer in der Öffentlichkeit

Ein Eindruck, der auch wissenschaftlich widerhallt. In einer britischen Studie ermittelten die Forscher*innen Zach de Beer und Bernadette Wren, dass es den Patienten „an ihrem Männlichkeitsgefühl nagte, dass sie unter einer Frauenkrankheit litten“. Scheinbar eine Negativspirale: Wenn kaum ein Mann offen mit der Erkrankung umgeht, verschweigen auch Leidensgenossen ihre Essstörung. Hinzu kommt, dass der essgestörte Mann in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vorkommt.

Wird das Thema in der Popkultur aufgegriffen, dann in aller Regel anhand von Frauen, etwa Karoline Herfurth, die im deutschen Arthouse-Klassiker „Vincent will Meer“ eine Magersüchtige spielt, die sich in einen Tourette-Patienten verliebt. In der Net­flix-Produktion „To the Bone“, wegen ihrer verharmlosenden Darstellung der Krankheit umstritten, verlieben sich ebenfalls zwei Patient*innen: Der Balletttänzer Luke ist aber auch schon die einzige nennenswerte essgestörte Männerfigur, die in den letzten Jahren zu sehen war.

Durchaus der realen Statistik entsprechend, könnte man sagen. Aber kulturelle Repräsentation hat nicht nur mit Quoten zu tun, sondern auch damit, Unbemerktes sichtbar zu machen. Das ist kaum der Fall, weshalb Magersucht bei Männern oft gar nicht erst für möglich gehalten wird.

Unbehagen der Geschlechter

Schon in Franz Kafkas Erzählung „Ein Hungerkünstler“ wird dem zur Schau gestellten Abgemagerten nicht geglaubt, dass er wirklich nichts isst. Die Wärter, die ihn bewachen sollen, schauen gönnerhaft weg, in der Erwartung, er würde dann seine Geheimvorräte plündern. „Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen“, heißt es bei Kafka.

Zu den wenigen Männern, die offen über ihre Magersucht reden, gehört der PR-Mann Christian Frommert, der unter anderem für die Radfahrer der Telekom und die Fußballer der TSG Hoffenheim arbeitete. In einem Interview mit der Münchner Abendzeitung antwortet er auf die Frage, ob es magersüchtige Männer schwerer hätten als Frauen: „Ja, definitiv. Viele Männer wollen ihre Krankheit nicht zugeben, Magersucht gilt nach wie vor als Kleinmädchenkrankheit.“

Dass man sich als Mann gefälligst zu schämen habe für eine Sache, die sonst mehrheitlich Frauen betrifft, wird so von Frommert und vielen anderen als selbstverständlich dargestellt. „Boy’s don’t cry“ und Boys don’t get brüchiges Haar und Zitteranfälle, so der Konsens.

Dabei wird bislang kaum in Erwägung gezogen, dass gerade das Unbehagen der Geschlechter ein möglicher Faktor in der Entwicklung einer Essstörung sein könnte. Schließlich bilden sich Anorexien oft in genau der Lebensphase aus, in der auch die Sexualität anklopft. „Die Pubertät wird als irritierend empfunden“, sagt der Arzt Christof Argeny, „man hat Angst vor der Weiblichkeit oder der Männlichkeit. Und die Regression scheint da die Lösung zu sein.“

Regression, also ein Zurückentwickeln zu einem kindlichen Stadium, schildern entsprechend viele Betroffene wie Aron Boks: Männern gerät die Potenz abhanden, Frauen die Periode. In vielen Texten beschreiben Betroffene ein Verwischen der angeblich so manifesten Gendergrenze. Bei dem Autor Benjamin von Stuckrad-Barre, unter den Männern mit Essstörungsvergangenheit wohl der prominenteste, liest sich das so: „Nun, in der Essgestörtenklinik, war ich eben ein 17-jähriges Mädchen, verhielt mich wie ein solches, hatte dieselben Probleme, bald auch dieselbe Sprache, denselben Humor.“

Durchaus plausibel, fragt man bei Genderforscher*innen nach. Im Diskurs über Magersucht bei Mädchen geht es sonst vor allem um Schönheitsideale, Magazincover und Heidi Klum. Dabei müsste es vielleicht öfter um Geschlechtererwartungen gehen.

So isst der Mann

Gülay Çağlar ist Professorin für Gender und Diversity an der Freien Universität Berlin und beschäftigt sich mit Ernährungspraktiken. Sie sagt: „Es besteht ein – im wahrsten Sinne – inniger Zusammenhang zwischen Ernährung und sozialem Geschlecht, das Ernährungshandeln ist ein zutiefst vergeschlechtlichter Akt.“

Bestimmte Nahrungsmittel würden demnach mit Männlichkeit oder Weiblichkeit assoziiert, genauso wie bestimmte Praktiken: Barbecue und schwitzende Hornbachmänner gehören in vielen Köpfen eben zusammen. Dass gleichermaßen auch der Verzicht auf Essen einen Bezug zur Selbstverortung junger Mensch hat, hält Çağlar für denkbar: „Aus der Perspektive der Genderstudies könnte man das als Ringen um die eigene Geschlechteridentität fassen“, so die Wissenschaftlerin.

Im Klartext: Wer in seiner Männlichkeit oder Weiblichkeit verunsichert ist, könnte versuchen, diese wegzuhungern. Ein Problem des binären Rollenverständnisses. Für mehr Vielfalt spricht sich auch Christof Argeny aus: „Wenn die Geschlechterrollen nicht mehr so schwarz-weiß dargestellt werden, kann sich auch die Seele umso vielfältiger entwickeln“, sagt der Psychotherapeut.

Erfahrungsberichte von Männern müssen den Frame der weiblich konno­tierten Magersucht nicht reproduzieren. Sie können auch dazu beitragen, ihn aufzulösen. In Österreich, sagt Christof Argeny, könne man etwa mit dem Begriff „Mädchenkrankheit“ nichts anfangen.

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3 Kommentare

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  • Während meines Aufwachsens hat der Alice-Feminismus jahrelang und leider nachhaltig dazu beigetragen, binäre Genderstereotype in den Köpfen zu verfestigen.

    War kein Spaß, da als Junge aufzuwachsen.

  • Sach mal so.

    www.spiegel.de/spi...nt/d-20521514.html



    “MAGERSUCHT



    Locker, Bahne, locker



    Der Ruderer Bahne Rabe war ein schweigender Kämpfer. Ohne große Worte rackerte er sich ab für den Olympiasieg im Achter, still und einsam hungerte er sich nach seinem Karriereende zu Tode. Warum nur? Von Dirk Kurbjuweit



    Da steht der Tod auf Stelzen, denkt Wolfgang Maennig, als er an einem Freitag im Mai die Tür seiner Wohnung öffnet. Er sieht einen Riesen, gut zwei Meter groß, aber der Körper ist dürr und klapprig, der Kopf ist schmal, kein Fleisch mehr an den Wangen, nur noch Haut, die faltig über den Knochen hängt. Die Augen liegen tief in den Höhlen.



    Der Mann, der vor Maennigs Tür steht, ist Bahne Rabe, mit dem er 1988 in Seoul olympisches Gold im Achter gewonnen hat. Damals wog Rabe 95 Kilo. Er war Schlagmann, hatte den stärksten Körper aller Ruderer. Jetzt wiegt er 60 Kilo und kann nicht länger als eine Viertelstunde gehen, ohne zu verschnaufen.…“



    &



    Der grauenhafte Rest - dorten.

    • @Lowandorder:

      & a. E.

      “Magersucht und Bulimie im Sport



      Bis zu 25 Prozent aller Sportlerinnen, so eine Studie im Auftrag des Kölner Bundesinstituts für Sportwissenschaft, leiden unter Essstörungen. Betroffen sind vor allem Turnerinnen und Eiskunstläuferinnen, aber auch Langstreckenläuferinnen, Judo-Kämpferinnen und Ruderinnen. Einer der prominentesten Fälle in Deutschland ist die Eiskunstlaufmeisterin Eva-Maria Fitze, die Ende der neunziger Jahre ihre Karriere unterbrechen musste und wegen ihrer Krankheit in eine therapeutische Wohngemeinschaft aufgenommen wurde. Die USamerikanische Turnerin Christy Henrichs starb 1994 an Magersucht. Für Schlagzeilen sorgte jüngst die deutsche Golferin Martina Eberl: Nach einer Bulimie-Therapie im vergangenen Jahr wagte sie ihr Comeback - und wurde im September Europameisterin. Fälle von Essstörungen unter männlichen Sportlern sind kaum bekannt; vor allem Jockeys und Skispringer gelten als besonders gefährdet. Der Schweizer Skispringer Stefan Zünd gehört zu den wenigen, die sich öffentlich zu ihrer Krankheit bekannt haben.



      * Bahne Rabe, Wolfgang Maennig, Thomas Domian, Armin Eichholz, Ansgar Wessling, Eckhard Schultz, Matthias Mellinghaus, Thomas Möllenkamp.



      Von Dirk Kurbjuweit “

      unterm——-aufschlußreich —



      Das zuvor beschriebene Verhalten von Bundestrainer Ralf Holtmeyer.