Landespolitik: Wieder in seinem Revier
Über 11 Jahre soll das Projekt Siemensstadt 2.0 dauern, ist im Bau-Ausschuss zu hören. Mit dabei und zurück in der Politik: Ex-Staatssekretär Kirchner, nun Experte der Senatskanzlei.
Im Sitzungssaal 311 des Abgeordnetenhauses ist Marius Müller-Westernhagen zu hören – gefühlt jedenfalls. Und zwar genau folgende Zeilen einer seiner schönsten Balladen: „Ich bin wieder hier, in meinem Revier, war nie richtig weg, hab mich bloß versteckt.“ Bloß versteckt hat sich der Mann allerdings nicht, der an diesem Tag erstmals seit über einem Jahr wieder in einem Parlamentsausschuss ist, wo er zuvor viele Male als Staatssekretär war. Schwer krank war der Grünen-Politiker Jens-Holger Kirchner. Sein Weg-Sein, das war sein Kampf gegen den Darmkrebs.
Er sieht gut aus, wie er da so im Saal steht. „Ich habe 15 Kilo abgenommen“, erzählt er der taz, „ich fühle mich fitter als vorher.“ Der Stadtentwicklungsausschuss tagt, reihenweise kommen vor Sitzungsbeginn Abgeordnete und Mitarbeiter vorbei, um ihn zu begrüßen. Sein Parteifreund Andreas Otto natürlich, SPD-Mann Daniel Buchholz, aber auch Stefan Evers von der CDU. Manche würde man nicht vermissen, vor allem beim politischen Wettbewerber, aber bei Kirchner sei das anders, ist von einem Oppositionsmann zu hören.
Seit dem 1. August arbeitet Kirchner wieder, im Dezember von der damals parteilosen, heute grünen Senatorin Regine Günther als Verkehrsstaatsekretär entlassen, jetzt in der SPD-geführten Senatskanzlei. Sein Job ist überschrieben mit „Beauftragter für die Koordinierung größerer Stadtentwicklungsprojekte“. Und das Ausschussthema des Tages ist sogar eines der größten gegenwärtig diskutierten Projekte überhaupt: die Pläne der Siemens AG, aus seiner Produktionsstätte in Spandau eine „Siemensstadt 2.0“ zu machen, angeblich mit Investitionen von 600 Millionen Euro.
Ende 2018 hatten sich Siemens und der Senat verständigt, aus dem jetzigen Standort – laut Siemens „immer noch unser größter Fertigungsstandort weltweit“ – einen Campus für Zukunftsindustrien und -technologien zu machen und „zu einem Ort für innovative Ideen, Kreativität, Wohnen und Bildung auszubauen“.
Der Bezirk bleibt dabei etwas außen vor: Die Planung, die sonst vor Ort liegt, hat die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung übernommen. Helmut Kleebank (SPD), der Spandauer Bürgermeister, stellt das im Ausschuss aber nicht als Problem dar. Dass die Senatsverwaltung plant, hält er angesichts der Größe des Projekts für richtig, zudem „war der Bezirk von Anfang an in alle Planungsschritte eingebunden“.
Die Stimmung im Umfeld, wo ohnehin wegen gleich dreier Neubauprojekte viel im Umbruch ist, beschreibt Kleebank als „eine Mischung aus Befürchtungen, Hoffnung und Visionen“. Unter den Zuhörern im Saal sind Mitglieder einer organisatorisch bei der Linkspartei angedockten, aber nach eigener Darstellung überparteilichen Bürgerinitiative: Sie stellt in einem Info-Blatt unter anderem Fragen zu Mietentwicklung und Verkehrsbelastung.
Allzu viel Konkretes hören die Abgeordneten an diesem Mittwoch nicht – Siemens-Projektleiterin Karina Rigby verweist mehrfach darauf, dass derzeit der städtebauliche Wettbewerb laufe. Zu Jahresende soll er offenbar abgeschlossen sein, 18 Architektur- und Baubüros würden sich beteiligen.
Jens-Holger Kirchner verfolgt das Ganze entspannt, das Reden für den Senat übernimmt weitgehend Staatssekretärin Regula Lüscher. Dem Tagesspiegel hat Kirchner vor Wochen von anderer Ernährung, viel Sport und Qigong berichtet. Viel zu lange habe er nicht gemerkt, dass er seinem Körper zu viel zugemutet habe, sagt er jetzt der taz.
Im Ausschuss wird Kirchner zum Großprojekt Siemensstadt 2.0 mutmaßlich noch manches Mal zu sehen und sicherlich auch zu hören sein. Unternehmensmanagerin Rigby jedenfalls beschrieb die zeitlichen Dimensionen so: „Wir sind am Anfang eines Projekts, das elf Jahre und mehr dauern wird.“
Kirchner, der immer mal wieder den Kopf mit einem der wichtigsten Abteilungsleiter in der Senatskanzlei zusammensteckt und lächelt, sieht dabei zumindest aus einigen Metern Entfernung betrachtet nicht so aus, als ob ihn das groß beeindrucken würde. Liefe im Saal 311 tatsächlich „Wieder hier“, müsste das jetzt der Moment für Westernhagens Schlusszeilen sein: „Ich atme tief ein, und dann bin ich mir sicher, wieder zu Hause zu sein.“
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