Europas vernachlässigtes Zentrum: Das Meer in der Mitte
Früher war das Mittelmeer das geistige Zentrum Europas. Heute wenden sich die Menschen von ihm ab. Über ein Gewässer, das Hilfe braucht.
Früher hielt man die Gegend hier, das westliche Ende des Mittelmeers, für das Ende der Welt. „Non plus ultra“ – „Nicht mehr weiter“ – soll auf den Schildern gestanden haben, die vor dem Atlantik warnten und die Herkules auf dem Felsen von Gibraltar und dem nordafrikanischen Berg Dschebel Musa angebracht haben soll.
Heute stehe ich an der Küste im spanischen Tarifa und blicke nicht nach Westen Richtung Atlantik, sondern nach Süden. Von Tarifa aus hat man einen Panoramablick über die Straße von Gibraltar, auf das Rifgebirge bis hin zu den weißen Häusern im marokkanischen Tanger. Gerade mal 15 Kilometer ist die nordafrikanische Küste entfernt. Und trotzdem scheint es, als würde unsere Welt hier aufhören und eine neue beginnen. Früher einte das Mittelmeer das Hier und das Drüben, heute trennt es beide Seiten.
Vieles ist nicht mehr so, wie es einmal war, hier am Lieblingsmeer des Massentourismus, an meinem Lieblingsmeer. Es gibt zwar in Tarifa kein Schild mit der Aufschrift „Nicht mehr weiter“. Aber ich hatte dort einen grausamen Gedanken: Europa hat das Mittelmeer aufgegeben.
Ende August ist die Saison am Mittelmeer vorbei. Nur die paar Anwohner, die ganzjährig an seiner Küste leben, bleiben. Alle anderen verabschieden sich und drehen dem Mittelmeer den Rücken zu. Bis zum nächsten Sommer. Aber das Mittelmeer stellt nicht die Plastikstühle rein und lässt die Rollläden runter. Es hat immer Saison. Wenn die meisten Europäer weg sind, geht das wilde Zubetonieren in Strandnähe weiter, lassen Fabriken, Gemeinden und Private ihre giftigen Abfälle ins Meer, schlittern die Öltanker knapp an den Küsten entlang, sterben Menschen auf der Flucht nach Europa.
Mare nostrum – unser Meer
Und Europa scheint diese Region immer weniger für Europa zu halten. Es guckt auf das Mittelmeer nicht mehr als Zentrum seiner Identität, seiner Geschichte – seinen Zivilisationsgrund. Es guckt auf diese Gegend nur noch als Grenzregion. Es ist, als würde Europa sich dafür schämen und deshalb wegschauen. Niemand kommt mehr vom Mittelmeer zurück und erzählt, wie schön es war und dann sagen alle: „Neid!“ Mindestens ein Zuhörer fragt: „Keine Flüchtlinge gesehen?“, „Bist du etwa geflogen?“, „Wie kann man da überhaupt noch guten Gewissens hinfahren?“. Als wäre es ein abgeschiedenes, schwer zu erreichendes, fieses Ungetüm, dem man nicht begegnen will.
Dabei ist es – sein lateinischer Name „mare mediterraneum“ betont dies unzweifelhaft – ein Meer zwischen Land, also ein Meer, das Länder verbindet. Es ist mare nostrum. Es ist unser Meer. Und diesen Anspruch sollten wir nicht aufgeben. Denn es geht uns alle an, die wir am und vom Mittelmeer leben. Vor allem aber uns Europäer, als wirtschaftlich mächtigster und damit verantwortlichster Mittelmeeranrainer. Allen Wahlberechtigten dieses Kontinents sollte es ein dringendes Anliegen sein, endlich jemanden zu finden, der unser Meer beschützt.
Bei Google hat das Mittelmeer 4,5 von 5 Sternen. Bekannte und geschätzte Eigenschaften: blau und lauwarm. Jeder kennt den Empfang, den das Mittelmeer seinen Besuchern bereitet: Man steigt aus Auto, Bus, Zug oder Flugzeug und die Luft ist heiß, trocken, riecht nach Kiefer, Salz, kochendem Asphalt und Müll, und durch sie durch flirrt ein unaufhörlicher Schwall Zikadengeschrammel. Die Glückstaste rastet ein.
Über das Mittelmeer zu schreiben ist eigentlich vermessen. Denn das Mittelmeer ist Universalgeschichte. Kein Text kann seiner ganzen historischen und kulturellen Bedeutung gerecht werden.
Im Mittelmeer reisen heißt „tausend Dinge auf einmal“
Der französische Historiker Fernand Braudel hat sein ganzes Leben mit der Erforschung dieses Raumes verbracht und sein Werk ist bis heute das wichtigste zum Tiefenverständnis des Mittelmeers. Auf die Frage, was die mediterrane Welt ist, schrieb er 1947: „Tausend Dinge auf einmal. […] Im Mittelmeer reisen heißt, auf die römische Welt im Libanon treffen, auf eine prähistorische in Sardinien, auf griechische Städte in Sizilien, auf Spuren arabischer Anwesenheit in Spanien, solche des türkischen Islam in Jugoslawien. […] Es heißt, Altes und Uraltes, das noch lebendig ist, Seite an Seite mit höchst Neuzeitlichem zu finden: den ungeheuren Industriekomplex von Mestre neben dem scheinbar unverrückbaren Venedig, die Fischerbarke, die sich in nichts von dem Boot des Odysseus unterscheidet, neben einem Supertanker oder einem jener Hochseefangschiffe, welche die Meere plündern.“ Es scheint als hätten die Menschen heute all das vergessen.
Früher war das Mittelmeer Zentrum der Identität Europas, heute wenden sich die Menschen von ihm ab. Ein Essay über ein Meer, das Hilfe braucht – in der taz am wochenende vom 17./18. August. Außerdem: Die Polizei möchte Bienen zur Drogenfahndung einsetzen. Science Fiction oder bald Realität? Und: In Belgien bekommen Obdachlose schnell eine Wohnung, in Deutschland nicht. Eine Reportage. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und bei Facebook und Twitter.
Kein anderes Meer dieser Welt spielt in der Geschichte der Zivilisation eine so wichtige Rolle. Kein anderes Meer dieser Welt hat derart vielfältige Vermischungen und Verbindungen verschiedener Kulturen aufzuweisen. Es gibt keine autochthone Mittelmeerkultur. Die Zivilisationen am Mittelmeer sind immer als Amalgam verschiedener Kulturen entstanden. Sicher, meistens alles andere als friedlich.
Auf dem Mittelmeer wurde Krieg geführt und gehandelt, an seinen Rändern Mensch und Natur unterworfen und ausgebeutet. Aber hier hat man sich nun mal auch die Demokratie ausgedacht (Athen) und den Kapitalismus erfunden (Venedig), hier ist das Zentrum, um das sich die moderne europäische Identität bildete, die die Grenzen in friedlicher Absicht überwinden will. Es sind die Bürger, die Reisenden, die Schriftsteller, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert die Mediterranée suchen und sich von ihr inspirieren lassen: das Ideal von Humanität, Weltfrieden und Schönheit.
Wo früher Freiheit und Universalismus definiert wurde, heißt es heute „Grenzsicherung“. Das ehemalige Zentrum ist Peripherie geworden. Lager, Zäune, prügelnde und schießende Polizisten, kenternde Schlauchboote und kriminalisierte private Rettungsschiffe, Regierungen, die sich gegenseitig Schuldvorwürfe machen – im Mittelmeer herrscht Krieg. Das Mittelmeer ist ein Schützengraben. Für das UN-Flüchtlingshilfswerk ist das Mittelmeer seit 2014 das tödlichste Gewässer der Welt.
Frontex, Affen und der Homo sapiens
Schon im Namen der europäischen Küstenwache Frontex steckt der Exit und der Exitus. Dort, wo Industrialisierung, Betonisierung und Touristifizierung überhaupt noch Lücken gelassen haben, werden seit Jahren Leichen angespült. Was die Juden „großes Meer“, die Türken „weißes Meer“, der französische Dichter Paul Valéry „privilegiertes Meer“ und die britischen Historiker Nicholas Purcell und Peregrine Horden „korruptes Meer“ nennen, könnte man heute schon „tödliches Meer“ nennen.
Den besten Blick über dieses Meer haben die 200 Berberaffen auf dem steil aus dem Meer ragenden Felsenzahn von Gibraltar. Sie bedienen sich aus den Rucksäcken der Touristen und fauchen auch mal kurz, wenn man sie bei ihren Meditationen – im Schneidersitz mit Meerblick – stört. Die einzigen freilebenden Affen Europas sind allerdings keine Europäer, wie man lange dachte. Sie kommen vom anderen Ufer, mitgebracht von Mauren zwischen 700 und 1492 – im Zeitalter von al Andalus, als unter arabischer Herrschaft das einzigartige Miteinander von Muslimen, Christen und Juden auch in Wissenschaft, Philosophie, Literatur und Kunst ungekannte Höhen erreichte.
Der britische Premier Winston Churchill sorgte mitten im Zweiten Weltkrieg dafür, dass die Makakenkolonie auf Gibraltar nicht ausstirbt. Er glaubte der Legende, dass die Halbinsel Gibraltar nur so lange britisch ist (was sie seit 1704 ist), wie die Affen auf dem Felsen leben.
Es gibt Wissenschaftler, die nicht ausschließen wollen, dass auch der Homo sapiens vor über 200.000 Jahren diesen Weg durch die Straße von Gibraltar nahm, um nach Europa zu kommen. Weder der Berberaffe noch der Homo sapiens hatten eine direkte, 40 Minuten dauernde Fährverbindung zwischen Tanger und Tarifa, wie es sie heute gibt. Aber heute ist es für Marokkaner und andere Afrikaner schwerer als damals für den Homo sapiens, Europa zu erreichen.
Verheißung von Abenteuer und Anderswosein
Mein Vater hatte das Glück, kein Meer überqueren zu müssen, um nach Deutschland zu kommen. Er war zwar ein Seefahrer und kam vom Meer, aber von der jugoslawischen Adria. Also hatte ich das Glück, ein südeuropäisches Gastarbeiterkind zu sein. Das brachte zwar in Deutschland einige Unannehmlichkeiten und Absurditäten mit sich, aber auch ein einzigartiges Privileg: ein Haus mit Meerblick.
Es gibt diese Jahre in der Schule, wenn sich Freundinnen aus den Sommerferien Postkarten schicken. Ich konnte immer nur die gleiche in den Briefkasten werfen: eine, auf der man eine Kiefer, ein Fischerdorf, einen Strand, fünf Palmen, drei Inseln, das türkise Meer und im Rücken ein Karstgebirge sieht. Ich beneidete die Freundinnen um ihre Postkarten, auf denen mal österreichische Berge waren, mal italienische Kathedralen oder Sandhaufen und Seegras, Windmühlen und Reihenhäuser aus Holz oder Backstein.
Tauschen wollte ich aber nie. Ich bin in dem Glauben groß geworden, die dalmatinische Küste sei die schönste Küste der Welt. Bis ich an anderen Küsten am Mittelmeer war und feststellen musste, dass eine italienische von einer spanischen, griechischen oder französischen nicht zu unterscheiden ist: azurblaues Wasser, terrassierte Steilküsten, spärlicher Waldbewuchs, schreckliche und brutalistische Betonburgen, Häfen und Oleander. Es sieht am Mittelmeer eben überall aus wie am Mittelmeer.
An unserem Meer durfte ich anders als in Deutschland auf der Straße spielen und mit meinen Freunden abends voll lange raus. Aus unserem Meer kamen die Fische, die der alte Fischer aus dem Dorf morgens an unsere Tür hängte. In unserem Meer sah ich in seinem Glitzern und seinen gemächlichen Wellen die Verheißung von Abenteuer und Anderswosein. In unserem Meer zu sein war pures Glück, was sich etwa so anfühlte wie Mit-allem-eins-sein plus gebratenes Hühnerbein. In unserem Meer lernte ich schließlich schwimmen, ertränkte Liebeskummer, versenkte heiße Träume und vergoss noch viel heißere Tränen, wenn ich es am Ende der Sommerferien wieder verlassen musste.
Denn unser Meer war für mich vor allem eins: die große Vertraute, der ich alles erzählen konnte, die immer offene Ohren, vollstes Verständnis und nie einen Rat hatte, aber immer eine Mutmacherin und nie Bedenkenträgerin war.
Vieles, was man übers Mittelmeer erzählt, stimmt nicht
Unser kleines Mittelmeerdorf ist relativ jung. Erst im 17. Jahrhundert übersiedelten die zwei Urfamilien aus den Bergen hier ans Wasser. Noch heute gehen nur die Kinder der Bewohner ins Meer, um zu schwimmen. Den Älteren ist es ein eher ungeheurer Ort. Vielleicht wegen seiner Untiefen. Vielleicht aber auch, weil die Vorfahren bewusst nicht hier lebten, weil die Eroberer der Küsten immer übers Meer kamen.
Es waren die Phönizier, also die Kultur vom östlichen Mittelmeer, die vor 3.000 Jahren die Ersten waren, die das Mittelmeer mit dem Schiff passierten, Handel trieben und den Raum von Zypern über Sizilien bis Spanien dafür kolonisierten. Viele der Zivilisationen am Mittelmeer haben sich übrigens gar nicht direkt an ihm gegründet. Venedig ist die bedeutendste Ausnahme. Rom ist bekanntlich auf Hügeln entstanden.
Vieles, was man sich so übers Mittelmeer erzählt, stimmt nicht oder nicht ganz. Ob Goethe oder Ibn Rushd, Karl V., Toto Cutugno oder Paul Valéry – die Landschaften, die auf Fotos, Gemälden, in Gedichten und Romanen besungen, gepriesen und imaginiert wurden, waren schon zu ihren Zeiten nicht mehr unberührt und unschuldig. Das heutige Bild des Mittelmeerbewohners: Er sitzt im Schatten großer Bäume, philosophiert, trinkt Wein, fängt Fische und erntet Oliven. Aber oft besteht die Philosophie aus Verschwörungstheorie, der Fisch kommt tiefgefroren aus der Nordsee und den Leuten fehlt das Geld, um die Impfung ihrer Kinder zu bezahlen.
Auch ich hatte lange die Vorstellung, dass es am Mittelmeer keine Müllverbrennungsanlagen, keine Schrottplätze, Krankheiten oder Winter gibt. Aber in unserem kleinen Adriadorf gab es schon in den 80er Jahren Leute, die keine Zimmer an Serben vermieteten, Teil der Bau- und Behördenkorruption waren, ihre Frauen als Hure beschimpften. In den von draußen pittoresk verrottenden Häusern am Mittelmeer geht es mitunter räumlich und moralisch sehr eng, stickig und arm zu.
Urlaub mit schlechtem Gewissen
Erst seit den Wirtschaftswunderjahren konnten es sich Arbeiter und Angestellte überhaupt leisten, einmal im Jahr in den Süden zu fahren. „Runter fahren“, wie man im Deutschen so schön sagte. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen dabei. In Deutschland galt meine Familie als arm, in Jugoslawien als reich, und beides stimmte nicht. Die Paradoxie des Gastarbeiterlebens. Dieses unangenehme Gefühl, am Mittelmeer „billigen Urlaub im Elend anderer Leute“ zu machen – wie einst die Sex Pistols in „Holidays in the Sun“ sangen –, bin ich nie richtig losgeworden.
Aber das schlechte Gewissen hat die Zivilisation noch nie gerettet. Das schlechte Gewissen führt zu nichts. Es fühlt sich nur schlecht an. Umso länger man es hat und nichts dagegen tut, umso größer wird es.
Als in den 90er Jahren die Zerfallskriege Jugoslawiens stattfanden, kehrte ich dem Land tatsächlich den Rücken. Ich wollte da nicht hingucken, nie wieder diesen Ort betreten. Aber mein Vater starb, jemand musste sich um das Haus kümmern. Verkaufen wollte ich es nicht. Vor einigen Jahren saß ein Freund auf meiner Terrasse mit Meerblick. Er ist Deutscher, seine Eltern sind Serben. „Jetzt versteh ich, warum du immer hierher fährst“, sagte er. „Du guckst aufs Meer und hast den ganzen Schlamassel hinter deinem Rücken. Du siehst ihn nicht. Ich komm jetzt auch öfter hierher.“ Damals schauten wir aufs Meer, weil die Probleme hinter uns lagen, heute liegen sie genau dort, in den blauen Wellen und niemand fühlt sich verantwortlich.
Als Kind war es mir sehr unangenehm, erklären zu müssen, dass wir nicht nach Italien, sondern nach Jugoslawien fuhren. „Ja, klar fließt da auch die Adria“, sagte ich immer. Ende der 80er Jahre aber war ich dann froh, dass mein Vater nicht vom anderen Ufer stammte. Kolibakterien, Erdöl, Abfall, Abwasser, Pestizide und Erwärmung führten in der Nordkurve der Adria zur „Algenpest“, weil die Strömung gegen den Uhrzeigersinn verläuft und oben in der Lagune von Venedig Stau war. Die Touristen blieben weg.
Tourismus als Schwerindustrie des 21. Jahrhunderts
Damals gab es den Yachthafen im Nachbarort unserer Adriaperle noch nicht. In der Bucht stand ein wunderschönes Hotel in Form eines Ufos, das in einem Kiefernwald direkt am Meer gelandet war. An einer kleinen Mole lagen die Fischerboote der Angestellten, die hier putzten, kochten und saubermachten. Heute sind an der kleinen Mole nur noch riesige Plastikschwimmtiere angebunden. Das Ufo am Meer steht leer und gammelt vor sich hin. Aus seiner großzügigen Architektur lässt sich kein schnelles Geld machen.
Dafür steht hier jetzt ein sich stetig ausbreitender Yachthafen. Er ist komplett illegal. Präsidenten von links bis rechts waren hier schon zum Fischessen eingeladen, lobten das tolle Projekt, über das als „Mafiahafen“ bereits in den meisten großen Medien des Landes berichtet wurde.
Die Handvoll Anwohner hat ein schlechtes Gewissen. Sie wissen, dass der Hafen das Aus für ihre Bucht ist. Aber sie sind froh, dass ihre Kinder hier für ein paar Euro kellnern, putzen und Motoren reparieren dürfen. Bei heftigem Wellengang spült es immer eine Spur Müll in ihre Bucht. Es ist der Müll, der für den Bau des Hafendamms benutzt wurde: Bauschrott, Kloschüsseln und Kühlschränke inklusive. Augen zu und drauf hoffen, dass es ab Juni wieder weniger Wellen gibt und der Dreck im Meer bleibt.
„Der Tourismus ist die Schwerindustrie des 21. Jahrhunderts“, sagt der italienische Autor Marco d’Eramo. Selbst der Status Weltkulturerbe schützt nicht vor den verheerenden Auswirkungen. Die Unesco droht seit einigen Jahren dem Staat Montenegro damit, der Bucht von Kotor den Status wieder zu entziehen, weil sie aufs Irrste und Protzigste zubetoniert wird. Montenegro interessiert das nicht. Das Weltkulturerbe zieht die Touristen an und zerstört damit gleichzeitig, was es eigentlich erhalten will.
Unterlassene Hilfeleistung für das Mittelmeer
Man vergisst all diese Geschichten schnell wieder, wenn man zu Hause ist. Zum einen gehört irgendeine Ekelgeschichte zum Sommerurlaub am Mittelmeer immer dazu. Und zum anderen sehen wir Saisonbewohner nicht, was passiert, wenn die Läden dicht, die Lichter aus, die Schilder abgenommen sind. Mittlerweile verlassen die Einwohner ungefähr zeitgleich mit den Touristen ihr Land. Gehen nach Norwegen, Schweden, Australien, um dort Geld zu verdienen. Als Saisonarbeiter. Der Mittelmeerbewohner hat wie das Mittelmeer nie Nebensaison.
120.000 Frachtschiffe fahren jährlich im Mittelmeer. Im östlichen Mittelmeer wird unermüdlich nach Öl gesucht. Käme es zu einem Unfall mit einem der Öltanker, könnte das Meer für Jahrhunderte verpestet werden. Eine Regulierung für verbindliche Tankerrouten, die das Risiko minimieren würde, gibt es nicht. Jedes Schiff fährt auf dem Mittelmeer, wie es ihm passt und wie es seinem „Recht auf Passage“ entspricht, die im UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 festgehalten ist.
Die unterlassene Hilfeleistung für die Flüchtlinge korrespondiert mit der unterlassenen Hilfeleistung für das Mittelmeer. Europa hat das Mittelmeer aufgegeben wie eine aufgelassene Fabrik im Ruhrpott. Das Mittelmeer ist ein Gebiet, das man verlässt. So verlassen wie die hunderttausend nicht zu Ende gebauten Häuser, Betonklötze mit Flachdach, an deren vier Ecken Metallstangen herausgucken. „Diese Stangen sind die greifbare Metapher des Mittelmeers, sie sind das visuelle Symbol für gescheiterte Pläne, für ein ungedecktes Streben, für Ambitionen, die sich nie erfüllen werden, wie auch die nächste Etage nie gebaut werden wird“, formulierte der kroatische Schriftsteller und Journalist Jurica Pavičić angesichts der Flüchtlingswelle 2015.
Wenn mein bester Freund in unserem Adriadorf betrunken ist, singt er seine Lieblingsserenade „Samo moru virujen“, „Ich vertraue nur dem Meer“. Und dann zählt er die Namen alter Angelhaken, Bootsformen und Fischfanglampen auf, Dinge, die von Dalmatinern erfunden wurden. „Aber das weiß ja heute kein Mensch mehr“, sagt er dann immer. Er würde auch gerne ein Lexikon der vergessenen Wörter des venezianisch geprägten Spliter Dialekts schreiben. „Aber wen interessiert das heute?“, sagt er dann immer. Das Mittelmeer ist nicht mehr Ort für Innovation, sondern Destination.
Projektionsfläche für Utopien
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach dem Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs, war das Mittelmeer Projektionsfläche für Utopien. 1933 wurde in Nizza das „Centre Universitaire Méditerranéen“ gegründet und der Dichter Paul Valéry zum Präsidenten gemacht. Atlantropa hieß das Projekt des Schwabinger Architekten Herman Sörgel, der durch den Bau von Staumauern den Mittelmeerspiegel um 120 Meter senken wollte, um so Afrika mit Europa zu verschmelzen.
Er verstand sein Projekt als Beitrag zum Weltfrieden, es sollte Afrika davor bewahren, als reiner Rohstofflieferant zu enden. Das Projekt fand großen Zuspruch, Sörgel wurde von der New Yorker Weltausstellung 1939 eingeladen. Die Nazis machten dem Projekt ein Ende. Das „Centre Universitaire Méditerranéen“ in Nizza gibt es zwar noch, es ist aber bedeutungsarm.
Das mittelmeerische Denken, das noch der algerisch-französische Intellektuelle Albert Camus als Inbegriff von Wissenschaft und Kunst, Literatur und Philosophie, Technik und Architektur verstand, das mediterrane System als Stichwort, wenn es um das geistige Zentrum Europas geht, ist nichts mehr wert. Dafür umso mehr das 2013 am anderen Ende der Côte d’Azur, in Marseille, eröffnete „Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers“. Fast 200 Millionen Euro war es den Errichtern wert. Es gilt der alte Spruch: Was musealisiert wird, ist tot.
Als Kind war für mich alles nördlich von Frankfurt Alaska. Aber nicht nur für mich. Jahrzehntelang war „mediterran“ Synonym für gut essen, gut trinken, gut leben: der Marketingbegriff schlechthin. Aber gucken wir wirklich noch nach unten, wenn wir an Europa denken? Richtet sich der Blick nicht längst nach Norden, wenn es um das europäische Lebensgefühl geht? Dorthin, wo die Hauptstadt Brüssel liegt. Hat das skandinavische Lifestyle-Konzept Hygge nicht längst das mediterrane abgelöst? Es hat sicher auch mit dem Klimawandel zu tun, dass der mediterrane Raum heute in der Uckermark zu Hause ist. Und man geht auch lieber zum Asiaten und nicht mehr so gerne zum Italiener. Der ist nämlich eigentlich viel zu salzig.
Ein bedürftiges Meer
So wie das Mittelmeer. Das Wasser aus den europäischen Flüssen reicht nicht mehr, um die hohe Verdunstung auszugleichen. Würde man die Straße von Gibraltar und die Dardanellen schließen, würde das Meer in relativ kurzer Zeit verdampfen und man würde auf dem Meeresboden die Überreste unserer Epoche finden. Auf dem Boden des Mittelmeers sollen heute neben den Leichen der Geflüchteten und den Bergen aus Plastikabfall etwa 100 Schiffe mit giftigem bis hochgiftigem Müll aus Nordeuropa, vor allem Deutschland, liegen. Die kalabrische Mafia weiß von nichts.
Tatsächlich ist das Mittelmeer schon mal komplett verdampft. Vor über 5 Millionen Jahren, als die Erdplatten aufeinander trafen. Erst einige Jahrtausende später schwappten Atlantik und Schwarzes Meer in das Becken und bilden seitdem die Meerengen, ohne die das Mittelmeer nicht existieren könnte. Es ist ein bedürftiges Meer: abhängig von zwei Meerengen. Und heute auch abhängig von menschlicher Hilfe.
Der französische Historiker Braudel ging 1947 davon aus, dass eine Zivilisation, die Jahrtausende gehalten hat, auch noch weitere tausend hält. So beständig am Mittelmeer die Winde und die Strömungen, die Oliven, der Wein und das Getreide sind: „Sie überleben ihren Wandel und ihre Katastrophen. Bisweilen gehen sie verjüngt aus ihrer Asche hervor. Zerrüttet oder zumindest verwundet, atmen sie gleichwohl weiter: leise und oft in neuem Rhythmus.“
Der britische Historiker David Abulafia hingegen unterteilt in seiner 2011 erschienenen „Biographie“ das Mittelmeer in fünf historische Zeitalter. Unseres hält er für das letzte, in dem die Welt sich um das Große Meer dreht. Dank Flugzeug und Internet sei die Welt längst ein einziger großer Mittelmeerraum geworden, ein Ort der Vernetzung, des Austauschs, der Verbindung und Vermischung der Kulturen.
Es braucht einen Beschützer
So gesehen wäre das Mittelmeer eine wirtschaftlich abgehängte Region, seit von hier aus 1492 Amerika entdeckt wurde. Die 2008 gegründete Mittelmeerunion hat daran bisher nichts geändert. Zwar weckt der Name dieses Bündnisses utopische Assoziationen und jedem leuchtet sofort seine Sinnhaftigkeit ein. Allerdings gilt sie als gescheitert, weil sie weder ordentlich finanziert noch ernst genommen wurde. Auch, weil sämtliche EU-Staaten Mitglied sind, also auch Länder wie Finnland, Estland und Irland. Es dürfte klar sein, wer in dieser Union das Sagen hat.
Das Mittelmeer aber braucht einen Beschützer, eine einflussreiche Interessenvertretung. Würde man noch mal Ernst machen wollen mit der Mediterranée, könnte man Istanbul zum ständigen Sitz der Kulturhauptstadt Europas machen, das EU-Wirtschaftsministerium mit einem Fischer aus Nordafrika besetzen und einen Mittelmeerminister berufen, der auf einer Stufe mit der Kommissionspräsidentin steht. Denn das Mittelmeer muss wieder als ein gemeinsamer Raum gesehen werden. Mare nostrum heißt „unser Meer“. Aber unser Meer ist eben nicht nur europäisch.
Am Mittelmeer gibt es keinen Geheimtipp mehr, aber wir bräuchten dringend einen, um es am Leben zu erhalten. Sonst stirbt nicht nur das Meer, sondern auch die Idee von Europa.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!